Der Krieg ist Thema: Aufgetürmte Sandsäcke und während des Kriegs entstandene Poster vor dem Pavillon der Ukraine.

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Latifa Echakhch zeigt im Schweizer Länderpavillon angebrannte Riesenskulpturen.

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Simone Leigh beschäftigt sich als US-Beitrag mit dem Thema Sklaverei.

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Am äußersten Ende des Arsenale, vorbei an vielen Schiffsbecken, liegt der größte Länderpavillon der Biennale, jener von Italien. Normalerweise stellen hier eine ganze Reihe von Kunstschaffenden aus, deren Namen man beim Verlassen der Industriehalle schon wieder vergessen hat. In diesem Jahr ist das nicht so, und das hat weniger damit zu tun, dass Italien zum ersten Mal einen einzigen Künstler ausgewählt hat, den Komplex zu bespielen. Der in Neapel lebende Gian Maria Tossati hat in das Backsteingebäude einen Parcours gebaut, der einem nach Besichtigung von mehreren Dutzend Länderpavillons klarmacht, was Kunst leisten kann.

Verwaiste Nähmaschinen in einem Betonbunker: Der italienische Pavillon taucht in vergessene Utopien ein.
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Die vor sich hin rostenden Förderbänder, die sich durch die erste Halle ziehen, stehen still, nur aus einem Transistorradio dudelt Musik. Der nächste Raum ist eine moderne Werkshalle, von deren Decke Plastikrohre hängen. Durch einige verwaiste Wohnräume geht es in eine Art Betonbunker mit Arbeitstischen, auf denen Nähmaschinen stehen. Schließlich der letzte, vollkommen dunkle Raum, in dem ein Steg aufs Wasser führt. In der Ferne blinken Glühwürmchen, aber es könnten auch Flüchtlingsboote sein.

Aus Kälte erwächst Poesie

Vor fünf Jahren hat das Kunsttrio Anna Viebrock, Alexander Kluge und Thomas Demand aus der Fondazione Prada in Venedig einen Palazzo der Wahrnehmungsschärfung und -verschiebung gemacht. Unter der Regie von Tossati taucht man im italienischen Pavillon (ähnlich, aber doch ganz verschieden) in vergangene Träume und vergessene Utopien ein. Es ist ein Abgesang auf eine Ära der Industrialisierung, aber auch eine Erinnerung an die zerstörten Fabriken in Mariupol. Aus der Kälte erwächst die Poesie, aus der Poesie erwächst die Beklemmung.

Wie mit einem Hammer wurde die Biennale von Venedig erst von der Pandemie und jetzt vom Krieg getroffen. Die Verschiebung um ein Jahr hat manchen Künstlerinnen und Künstlern mehr Zeit verschafft, eigene Beiträge nachzuschärfen, der Krieg hat aber auch einige aus der Bahn geworfen. Vor dem geschlossenen russischen Pavillon patrouillieren Carabinieri, im ukrainischen Pavillon, wo Wasser durch pyramidal angeordnete Trichter plätschert (ein kräftiger Strahl oben, kleine Rinnsale unten) gibt Künstler Pavlo Makov Interviews in Endlosschleife.

Kitsch und Kopfnicken

Stark erscheinen plötzlich jene Positionen, die über die ubiquitären Repräsentations- und Identitätsthemen des aktuellen Kunstbetriebs hinausdenken und wie im schweizerischen Pavillon enigmatische Erfahrungsräume öffnen. Aus Holzfurnieren hat Künstlerin Latifa Echakhch angebrannte Riesenskulpturen geformt. Je weiter man in den Bruno-Giacometti-Bau vordringt, umso dunkler wird es, Asche bedeckt den Boden. Auch im dänischen Pavillon vis-à-vis nimmt Uffe Isolotto die Besucher mit auf eine dystopische Reise. Im Mittelpunkt hier sind drei Kentauren, erhängt oder niedergestreckt zwischen Bergen von vertrocknetem Seegras.

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Dystopisch geht es im dänischen Pavillon, gestaltet von Uffe Isolotto, zu.
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Die Grenze zum Kitsch ist hier zwar nah, aber zumindest überfällt einen nicht sofort ein verständnisvolles Kopfnicken wie bei jenen Beiträgen, in denen alles nach Kunstlehrbuch läuft. Der deutsche Beitrag von Maria Eichhorn ist ein Beispiel dafür. Ursprünglich bestand ihre Idee laut Kurator Yilmaz Dziewior darin, den Pavillon ganz abzutragen und an anderer Stelle wieder zu errichten. Am Ende ließ die deutsche Künstlerin Fundamente des 1909 errichteten bayerischen Pavillons ausgraben und legte Gebäudeteile des Nazi-Erweiterungsbaus von 1938 frei.

Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wird im deutschen Pavillon betrieben: Künstlerin Maria Eichhorn hat Fundamente freigelegt.
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Eichhorn ist beileibe nicht die Erste, die sich mit der Geschichte des deutschen Pavillons selbst beschäftigt – und es ist zu befürchten, dass sie auch nicht die Letzte sein wird. Ein gewitzteres Spiel mit Architektur ist in den Raumverschiebungen von Ignasi Aballì im spanischen Pavillon zu erleben. Er liegt neben jenem von Belgien, in dem ein alter Bekannter des Kunstbetriebs, Francis Alÿs, eine Vielzahl von Videos mit Kinderspielen zeigt, aus dem Kongo genauso wie aus der Schweiz. Da rollen Kinder in Autoreifen Müllberge runter, oder man formt Kugeln im Schnee. Flankiert werden die Videos von kleinen Traumbildchen. Unbeschwertheit und Unheimlichkeit gehen Hand in Hand, die Interpretation ist offen, die Fantasie gefordert.

Skulpturen aus Rentierinnereien

Leider ist das bei einigen Beiträgen, die sich mit Identitätsfragen auseinandersetzen, weniger der Fall, sei es bei der auf den Kunstmarkt schielenden Position von Simone Leigh im amerikanischen Pavillon (Sklavenfiguren unterm Strohdach) oder der Britin Sonia Boyce, die fünf schwarzen Musikerinnen huldigt und über eine Dokumentation schwarzen, weiblichen Musikschaffens auf der Insel nicht hinauskommt. Der im Vorfeld bereits viel beachtete nordische Pavillon wurde wiederum zum "Sámi Pavillon" umbenannt. Die indigenen Sámi bevölkern ein Gebiet im Norden Skandinaviens. In ihren Arbeiten widmen sich drei ihrer Künstler dem eigenen spirituellen Wissen, dem Kampf um Rentierherden, den Traumata ihrer Kolonialisierung.

Gehört mit einem die Wände füllenden Zyklus mit Roma-Geschichten zu den Favoriten für den besten Länderpavillon: Polen.
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Kunst wird zum Wissensvehikel, ihr ästhetischer Gehalt ist außer in den Rentierinnereien-Skulpturen von Máret Ànne Sara aber eingeschränkt. Besser gelingt diese Verschränkung der Französin Zineb Sedira, die das algerische Kino zum Thema macht, oder im polnischen und griechischen Pavillon, die wild-poetische Roma-Geschichten erzählen.

Beide Länderpavillons gehören zum Favoritenkreis für den am Samstag vergebenen Goldenen Löwen. Die Wände des polnischen Pavillons umläuft ein Textilzyklus, der Fresken aus Ferrara zitiert, aber Roma-Geschichten zum Inhalt hat, im griechischen Pavillon nimmt einen Loukia Alavanou mithilfe von 3D-Brillen mit in eine Roma-Siedlung. Ödipus und Antigone sind übrigens auch mit dabei. (Stephan Hilpold aus Venedig, 21.4.2022)