Zigtausende IT-Fachleute haben Russland bereits den Rücken gekehrt.

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Die russische Technologiebranche machte im Vergleich zur Energiewirtschaft bisher nur einen kleinen Teil der russischen Wirtschaftsleistung aus. Die Entwicklung zeigte in den vergangenen Jahren aber stetig nach oben. Mit der Ukraine-Invasion und den darauffolgenden Sanktionen ist diese Entwicklung nun zunichte. Allein im März sollen 50.000 bis 70.000 IT-Fachkräfte das Land verlassen haben, schätzt der Fachverband Russian Association for Electronic Communications (RAEC). Für April stand die Zahl von 100.000 weiteren Fachleuten im Raum.

Georgien und Armenien hoch im Kurs

Zigtausende, darunter viele Start-up-Gründer und -Gründerinnen, haben unmittelbar nach Kriegsbeginn die Chance genutzt, um nach Georgien und Armenien auszureisen. In den Staaten, die einst zur Sowjetunion gehörten, wird vielerorts Russisch gesprochen, außerdem dürfen die Fachkräfte dort sechs (Armenien) bis zwölf (Georgien) Monate ohne Visum leben. Auch in die Türkei, aber auch nach Serbien reisten viele russische Technologiefachleute aus.

Zwar dürfte es sich bei der geschätzten Zahl gerade einmal um fünf bis zehn Prozent aller IT-Fachkräfte Russlands handeln. Angesichts des ständigen Mangels an technologischen Fachleuten könnte diese Abwanderung, gerade auch von jungen Führungskräften und Gründerinnen, Russland im Technologiesektor nachhaltig zurückwerfen.

Schikanen bei der Ausreise

Die russische Führung hat die Dramatik längst erkannt und versucht deshalb mit einer Kombination aus positiven Anreizen und Einschüchterung die Massenflucht zu stoppen. IT-Fachkräften, die im Land bleiben, verspricht die russische Führung eine Steuer- und Militärbefreiung. An den Grenzen wiederum berichten Ausreisende, dass sie schikaniert und ihre Handys, Tablets und Notebooks durchsucht werden, wenn sie ihre Tätigkeit in der Software- und IT-Branche angeben.

So soll der Browserverlauf in den durchleuchteten Geräten nach Stichworten wie "Protest", "Ukraine", "Putin" und "Krieg" durchsucht werden. Manches Equipment werde von den Grenzbehörden überhaupt mit dem Hinweis eingezogen, man bekomme dieses zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurück.

Ein Programmierer berichtet, in einer Tabelle auf einem Behördencomputer habe er sehen können, dass bei der Befragung von Ausreisenden nur zwischen IT- und Nicht-IT unterschieden wurde. Diverse Personaldaten sowie Informationen, für welches Unternehmen man bereits gearbeitet habe und noch beabsichtige tätig zu sein, werden von den Grenzbeamten akribisch festgehalten. In Telegram-Gruppen wird bereits darauf hingewiesen, bei der Ausreise besonders vorsichtig zu sein.

Globale Firmen und das Misstrauen

Neben der Ausreise in die bereits erwähnten Russland-nahen bis -freundlichen Staaten werden tausende Fachleute aber auch von internationalen Firmen abgezogen, die ihr Geschäft in Russland mittlerweile eingestellt haben. Mittels Charterflügen werden die gut ausgebildeten Beschäftigten in die ganze Welt ausgeflogen, viele davon in die bekannten Tech-Hubs in Irland, aber auch Israel sowie den Niederlanden.

Mit der Fortdauer des Krieges steigt neben der erschwerten Ausreise allerdings auch das Misstrauen, das russischen Bürgerinnen und Bürgern in vielen Ländern entgegengebracht wird. Die litauische Regierung etwa teilte mit, man habe alle Bewerbungen für Start-up-Visas aufgrund von Sicherheitsbedenken und der Gefahr der Spionage auf Eis gelegt. Die Deutsche Telekom wiederum soll die Zugriffsrechte ihrer russischen Software-Fachleute auf die betreuten IT-Systeme stark eingeschränkt haben. (step, 28.4.2022)