Im Gastblog schreibt der Historiker Darko Leitner-Stojanov über die Wichtigkeit der bulgarisch-mazedonischen Historiker:innenkommission.

Im Frühjahr 2019 hat ein österreichisch-tschechisches Team von Historikerinnen und Historikern einen Buchband ("Nachbarn") über die gemeinsame Geschichte der beiden Länder veröffentlicht. Mit dem Schwerpunkt auf der modernen und zeitgenössischen Periode war es das Ziel, die in beiden Ländern verbreiteten wechselseitigen Vorurteile übereinander zu überwinden und verbindende Aspekte in den historischen Beziehungen herauszustreichen. Das Projekt wurde von den Akademien der Wissenschaften beider Länder durchgeführt und von den jeweiligen Außenministerien sowie weiteren Institutionen finanziert. Das Buch ist in Österreich und der Tschechischen Republik sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache erschienen.

Auch in Südosteuropa ist seit 2018 eine bulgarisch-mazedonische Geschichtskommission aktiv, die die gemeinsame Geschichte der beiden Länder hervorheben und zum Aufbau friedlicher nachbarschaftlicher Beziehungen beitragen soll. Die Kommission wurde 2018 von den jeweiligen Außenministerien gegründet. Während die österreichisch-tschechische Initiative auf die Gründung der "Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe" (SKÖTH) im Jahr 2009 zurückgeht, geht die bulgarisch-mazedonische Historiker:innenkommission auf das "Abkommen für Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit" zwischen der Republik Bulgarien und der Republik Mazedonien aus dem Jahr 2017 zurück (ratifiziert 2018). Im selben Jahr wurde auch eine griechisch-mazedonische Kommission gebildet.

Zwischen dem Balkan und der EU

Die Einrichtung einer bulgarisch-mazedonischen Historiker:innenkommission war eine bulgarische Initiative vor dem Hintergrund der EU-Beitrittsambitionen Nordmazedoniens. Der Integrationsprozess verlangt von den Beitrittskandidaten, dass sie alle größeren Probleme mit ihren Nachbarstaaten lösen, damit kein Konfliktpotenzial in die Europäische Union importiert wird. Nordmazedonien ist seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat und kämpft seit langem intern mit Reformen in wichtigen Bereichen wie dem Justizsystem, der Medienfreiheit oder ökologischen Standards. Doch abgesehen von diesen Problemen wurde und wird der Weg zum EU-Beitritt durch externe Faktoren blockiert.

Lange Zeit hat Griechenland den Prozess mit der Änderung des Landesnamens konditioniert, weil es ihn als ausschließlich griechisches historisches Erbe ansah. Im Jahr 2019 benannte sich die Republik Mazedonien in Republik Nordmazedonien um, was für die Mazedonierinnen und Mazedonier eine schwer zu schluckende Pille war, aber zur Aufhebung der griechischen Blockade führte. Kurz darauf trat Nordmazedonien dem Nato-Bündnis bei und blickte mit Begeisterung in Richtung EU. Doch nun war es Bulgarien, das den EU-Integrationsprozess konditionierte. Sofia fordert eine Änderung des mazedonisches Geschichtsnarrativs und weigert sich darüber hinaus, die Eigenständigkeit der mazedonischen Sprache anzuerkennen.

Die mazedonisch-bulgarische Historiker:innenkommission setzte ihre Arbeit trotz der bulgarischen Blockadehaltung fort. Im ersten Jahr erarbeitete sie Empfehlungen für ein gemeinsames Erinnern an fünf historische Persönlichkeiten, denen sowohl in Bulgarien als auch in Nordmazedonien symbolische Bedeutung beigemessen wird; im Hinblick auf gemeinsame Gedenkfeiern von zwei Ländern ist das durchaus beachtlich. Dazu gehören die sogenannten "Slawen-Apostel", die Brüder Kyrill und Methodius, ihre Schüler, die ihr kulturelles und religiöses Wirken fortsetzten, Kliment und Naum, sowie der Herrscher eines großen mittelalterlichen Staates auf dem Balkan, Zar Samoil. Das sind alles bedeutende Persönlichkeiten aus dem politischen, kulturellen und religiösen Leben des 9. bis 11. Jahrhunderts. Darüber hinaus verfasste die Kommission mehrere Empfehlungen für nuanciertere und tolerantere Ansätze in den Geschichtslehrbüchern beider Länder. Diese Ergebnisse wurden jedoch relativ früh erzielt und beschränken sich auf weiter zurückliegende historische Perioden.

Historische Bürden

Trotz dieser gemeinsamen Errungenschaften steht die Arbeit der bulgarisch-mazedonischen Historiker:innenkommission auch vor mehreren Hindernissen, wie zum Beispiel dem schwindenden gegenseitigen Vertrauen ihrer Mitglieder, politischen Einflüssen und Druck sowie politischer Konditionierung, begleitet von regelmäßigen gegenseitigen Schuldzuweisungen sowohl auf politischer als auch auf intellektueller Ebene. Im Kern liegt das Problem aber darin, dass die bulgarische Seite der Kommission die mazedonische Seite beschuldigt, den Dialog zu blockieren indem sie die "historische Wahrheit" über ihre eigene Herkunft und Identität nicht akzeptiert. Damit verbunden sind auch hitzige Debatten über die ethnische Herkunft von Aktivistinnen und Aktivisten der Revolutionszeit in der Region Makedonien am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wie etwa Goce Delchev (1872–1903).

Die wichtigsten historischen und sprachwissenschaftlichen Darstellungen aus Bulgarien behaupten, dass die Mazedonierinnen und Mazedonier vor 1945 eigentlich Bulgarinnen und Bulgaren waren. Die mazedonische Nation sei von der jugoslawischen kommunistischen Partei künstlich geschaffen worden und die mazedonische Sprache sei nur ein Dialekt des Bulgarischen. In mazedonischen historischen und sprachwissenschaftlichen Darstellungen erfährt man hingegen, dass die Entstehung der mazedonischen Nation in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreiche und die Existenz eines Dialektkontinuums über große Regionen hinweg nicht bedeutet, dass es nur eine standardisierte Sprache gebe (mit Verweis auf Serbisch und Kroatisch oder Dänisch und Norwegisch). Die mazedonische Seite beschuldigt die bulgarische Seite des politischen Drucks und der Konditionierung sowie des Versuchs, der anderen Seite ihre Geschichtsdarstellung aufzuzwingen. In der Tat gibt es in der Geschichtsschreibung und im Geschichtsunterricht sowie in der gegenseitigen Wahrnehmung in beiden Ländern viel zu verbessern, aber es ist ein Unterschied, ob dies im offenen Dialog und im Aufbau gemeinsamer Netzwerke oder unter politischem Druck geschieht.

Hier sind fünf Geschichtsschulbücher aus Bulgarien abgebildet. Die Mitglieder der historischen Kommission haben Geschichtslehrbücher ausgetauscht, und jedes Team analysiert die des anderen Landes, um konstruktive Vorschläge zu machen.
Foto: Institute for Habsburg and Balkan Studies

Auf politischer Ebene kann sich die abwegige Idee, der Nachbar solle die "historische Wahrheit" eingestehen, um den Weg Richtung EU zu ebnen, nur als kontraproduktiv erweisen. Nicht nur, weil der Akt des "Eingestehens" Gerichten vorbehalten sein sollte, sondern auch, weil Begriffe wie "historische Wahrheit" und "historische Tatsache" mit Blick auf nationale Identitäten in der Geschichtswissenschaft äußerst problematisch ist, wie man aktuell am Beispiel der Sichtweise Putins auf die Identität der Ukrainerinnen und Ukrainer sehen kann. Die Art und Weise, wie Historikerinnen und Historiker Wissen konzeptualisieren, ist entscheidend für ihre Interpretation der Vergangenheit. Dabei sind es nicht primär die nationalen Meistererzählungen, die zu Missverständnissen führen, sondern die zugrundeliegenden epistemologischen Unterschiede. Ob wir von Wahrheit oder Wahrheiten sprechen, ob wir die historische Wahrheit als Objekt oder als Konstrukt betrachten, ob wir uns als Beobachtende oder als Beteiligte sehen, ob wir Zusammenhänge "entdecken" oder "konstituieren", kann den entscheidenden Unterschied in den Dialogen zwischen Historikerinnen und Historikern ausmachen. Damit hängt auch die Frage der Multiperspektivität zusammen, ob wir eingestehen, dass es auch andere Anschauungspunkte gibt als die eigenen.

Traditionen des Dialogs

Die Idee gemeinsamer historischer Kommissionen (ob akademisch, aktivistisch oder politisch) hat in der Tat eine lange Tradition, die nach dem Ersten Weltkrieg begann, als die Frage nach der Darstellung von Konflikten, von Feindbildern und Animositäten im Geschichtsunterricht diskutiert wurde. Durch Arbeitsgruppen, Projektteams oder bilaterale Kommissionen haben Historikerinnen und Historiker im 20. und im 21. Jahrhundert versucht, einige der nationalistischen Geschichtsnarrative und -wahrnehmungen zu überwinden, die so viel Leid verursacht haben. Was die internationale Zusammenarbeit betrifft, so war es in der Zwischenkriegszeit der Völkerbund, der eine führende Rolle bei der Moderation von Dialog und der Förderung von Pazifismus und gegenseitigem Verständnis im Geschichtsunterricht spielte. Besondere Bekanntheit erlangten die deutsch-französische Kommission, die 1935 von Lehrerverbänden eingesetzt wurde, und die deutsch-polnische Kommission, die 1936 gegründet wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der Trend zur Bildung von Geschichts- und Bildungskommissionen in Europa fort. Ähnlich wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg haben die Zerstörungen und das Leid während des Zweiten Weltkriegs die Notwendigkeit eines toleranteren Geschichtsunterrichts, frei von nationalistischen Vorurteilen und Hass, deutlich gemacht. Diesmal war es die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (Unesco), die die führende Rolle bei der Förderung und Erleichterung dieser Bemühungen übernahm. Die deutsch-französische Kommission wurde wieder ins Leben gerufen und veröffentlichte 1951 eine Reihe von Schulbuchempfehlungen. Die deutsch-polnische Kommission begann 1972. Was das südöstliche Europa betrifft, so gab es mehrere Geschichts- und Schulbuchkommissionen, die während der sozialistischen Zeit und danach tätig waren. Zu nennen sind hier die österreichisch-slowenische Arbeitsgruppe und die italienisch-slowenische Geschichtskommission, die 2001 einen gemeinsamen Bericht veröffentlichte. In jüngster Zeit hat sich ein Netzwerk von Historikerinnen und Historiker auf dem Balkan zusammengetan, um alternative Geschichtslehrbücher zu erstellen, die sich auf Multiperspektivität und Toleranz konzentrieren. Besonders hervorzuheben ist das gemeinsame Geschichtsprojekt unter der Leitung vom Center for Democracy and Reconciliation in Southeastern Europe (CDRSEE)¹.

Bereits während des Kommunismus hatte es einen Versuch gegeben, eine gemeinsame bulgarisch-mazedonische Historiker:innenkommission einzurichten (1975). Dem gingen jahrzehntelange Diskussionen und Streitigkeiten zwischen bulgarischen und jugoslawischen/mazedonischen Politikerinnen und Politikern voraus. Sie stellte ihre Arbeit jedoch recht schnell wieder ein. Damals wie heute ging die Initiative von der bulgarischen Seite aus, die darauf bestand (und immer noch besteht), dass die "historische Wahrheit" über Mazedonien, d.h. sein angeblicher bulgarischer Charakter sowie die Nichtexistenz der mazedonischen Sprache, akzeptiert werden muss. Es ist diese lokale Tradition, die im Nationalismus der kommunistischen Ära wurzelt, die die Arbeit der Gemeinsamen Historischen Kommission stark beeinflusst. Die Liste der bulgarischen historischen Ansprüche und Forderungen reflektiert bis heute die im kommunistischen Bulgarien formulierten Forderungen. Ein solcher Ansatz lässt sich jedoch nicht mehr mit dem Anspruch auf wechselseitige Anerkennung und Respekt gegenüber Unterschieden vereinbaren.

Was können wir lernen?

Auch wenn die Ergebnisse der laufenden bulgarisch-mazedonischen Historiker:innenkommission sich im EU-Erweiterungsprozess negativ niederschlagen, kann man dennoch wertvolle Lehren daraus ziehen, und zwar auf mehreren Ebenen: politisch, intellektuell und gesellschaftlich. Zunächst einmal können bilaterale Diskussionen über heikle Themen aus der Vergangenheit nur dann zu einem positiven Ergebnis führen, wenn sie mit gutem politischem Willen und Aufrichtigkeit initiiert und geführt werden. Alte Nationalismen in ein modernes Gewand zu verpacken, wird nicht über andere Absichten hinwegtäuschen. Die Beteiligten müssen sich aufrichtig um die Förderung von Freundschaft und gegenseitigem Verständnis bemühen. Zweitens müssen Historikerinnen, Historiker und andere Intellektuelle, die aktiv in die Kommissionsarbeit einbezogen werden, in der Lage sein, sich kritisch mit der eigenen nationalen Geschichtsdarstellung auseinanderzusetzen.

Dazu gehört auch der Wille, sich schwierigen oder kontroversen Themen zu stellen. Das schließt ein, dass man von hegemonialen historischen Ansprüchen Abstand nimmt. Darüber hinaus sind bilaterale Dialoge weitaus produktiver, wenn sie dezentralisiert, ohne direkte politische Kontrolle und nicht kurzfristig und situationsbezogen stattfinden. Politische Konditionierung jeglicher Art kann dem historischen Dialog nur schaden und ihn letztlich zerstören. Im spezifischen EU-Erweiterungskontext auf dem Balkan wird man von historischen Debatten nicht absehen können, man sollte aber darauf achten, dass positivistische Geschichtsdeutungen nicht zu Blockadehaltungen führen und nationalistische Rivalitäten und Intoleranz befördern. (Darko Leitner-Stojanov, 6.5.2022)