Heikle Situation für Kevin Spacey.

Foto: AP Photo/John Minchillo

Die englische Strafjustiz, klagen Beteiligte seit vielen Monaten, funktioniert dieser Tage mehr schlecht als recht. Die massiven Sparprogramme der konservativen Regierungen hatten im vergangenen Jahrzehnt immer neue Stellenkürzungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten zur Folge. Die Folge: Viele Eigentumsdelikte werden kaum noch verfolgt, selbst Prozesse wegen Gewaltverbrechen steigen mit riesiger Verspätung; Akten werden verschlampt, Zeugen können sich nicht mehr erinnern, Angeklagte verschwinden ins Ausland.

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum es viereinhalb Jahre dauerte, bis diese Woche ein Ermittlungsverfahren der berühmten Londoner Polizeibehörde Scotland Yard in die Anklageerhebung durch die Kronanwaltschaft CPS mündete. Betroffen von der unsäglichen Verschleppung sind die mutmaßlichen Opfer eines Prominenten: Dem US-Schauspieler Kevin Spacey werden in insgesamt fünf Anklagepunkten Sexualstraftaten gegen drei teils deutlich jüngere Männer zur Last gelegt. Allerdings ruht das Verfahren schon wieder, wie CPS-Abteilungsleiterin Rosemary Ainslie verdeutlichte, nämlich solange der Superstar nicht britischen Boden betritt. Zu Spekulationen über ein Auslieferungsverfahren mochte sich Ainslie nicht äußern.

Strenge Regeln

Auch die Frage, warum die Causa erst nach so langer Zeit zur Entscheidungsreife gediehen ist, muss die Kronanwältin nicht beantworten, unterliegen die Medien auf der Insel doch strengen Regeln darüber, was im Vorfeld eines Prozesses berichtet werden darf ("sub judice"). Dies soll die Fairness des Verfahrens ebenso sicherstellen wie Ainslies ausdrückliche Erinnerung an die Unschuldsvermutung. Spacey selbst hat alle Vorwürfe stets bestritten.

Seit im Zuge der MeToo-Enthüllungen der Schauspieler Anthony Rapp einen Vorfall von 1986 gegen den zweifachen Oscar-Gewinner ins Feld geführt hatte, sah sich Spacey mit Vorwürfen von rund drei Dutzend Männern konfrontiert, sowohl in Amerika wie in England. Stets war von Übergriffen bis hin zur sexuellen Nötigung die Rede. In Rapps Fall kam erschwerend hinzu, dass sich der damals 26-jährige Täter an einem damals 14-Jährigen vergangen haben soll. Allerdings sind alle Anläufe, Spacey in den USA strafrechtlich zu belangen, bisher gescheitert; Rapps Zivilverfahren gegen Spacey ist vor dem zuständigen Gericht in Manhattan anhängig.

"Sir Kevin"

Auf der Insel genoss der Amerikaner hohes Ansehen bei Theaterliebhabern, seit er 2004 die Intendanz des ebenso beliebten wie heruntergewirtschafteten Old-Vic-Theaters südlich der Themse übernahm und zu neuem Ruhm führte. Was Spacey damals vormachte, haben inzwischen andere Theaterverantwortliche erfolgreich nachgeahmt: Prominente Stars zogen nicht nur das Publikum an, sondern auch vermögende Mäzene und Unterstützer, die sich gern im Umkreis berühmter Schauspielerinnen herumtreiben. Lohn für Spaceys gut zehnjähriges Engagement war die Verleihung der Ritterwürde zu Sir Kevin, ein Titel, den er als US-Staatsbürger freilich nicht tragen kann.

Nach Rapps öffentlicher Anschuldigung und Spaceys öffentlicher Ächtung – unter anderem wurde die letzte Staffel von "House of Cards" neu gedreht, Netflix stellte die Zusammenarbeit ein – meldeten sich allein bei der Old-Vic-Intendanz zwanzig Männer und berichteten von "unpassendem Verhalten" (inappropriate behaviour) des Superstars ihnen gegenüber. Die Vorwürfe bezogen sich auf die Jahre 1995 bis 2013. Unter anderem ließ sich der Schauspieler Roberto Cavazos mit dem Satz zitieren, er habe mit Spacey Situationen erlebt, "die an das grenzen, was man Belästigung nennen könnte".

Mehrere Tatorte

Ob Cavazos jetzt zu den drei gerichtsmanifesten Opfern gehört, bleibt offen; die Delikte, die Spacey zur Last gelegt werden, gehen jedenfalls über eine Belästigung hinaus. Vielmehr ist von vier Tätlichkeiten (assault) in den Jahren 2005, 2008 und 2013 die Rede; hinzu kommt die Anklage wegen "Anstiftung zur Penetration", die sich ebenfalls auf den Sommer 2008 bezieht. Tatorte waren jeweils London sowie die westenglische Grafschaft Gloucestershire.

Ob es tatsächlich zum Prozess kommt? Wenig spricht dafür, dass Spacey dieses Risiko wird eingehen wollen. Den Strafverfolgern lässt sich immerhin zugutehalten, sie hätten die zugrundeliegenden Sachverhalte gründlich geprüft. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Scotland Yard im vergangenen Jahrzehnt mehrfach ins Zwielicht geraten ist, als es um die Untersuchung von echten oder vermeintlichen prominenten Sexualverbrechern ging.

Jahrzehntelang wurden Vorwürfe schwerster Straftaten, von Bedrohung über Körperverletzung und Leichenschändung bis hin zur Massenvergewaltigung, ignoriert oder unterdrückt. Der eklatanteste Fall, der des 2011 verstorbenen BBC-Entertainers Sir Jimmy Savile, führte dann zu einer hysterischen Gegenreaktion: 2013 teilte ein Kriminaldirektor von Scotland Yard öffentlich mit, seine Sonderkommission werde "allen Opfern, die sich bei uns melden, Glauben schenken" – als sei es nicht Aufgabe der Kripo, Zeugen anzuhören und auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Später mussten die Verantwortlichen einräumen: Im Eifer, angeblichen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, waren sie einem Phantasten auf den Leim gegangen. Ungerechtfertigt in Verdacht gerieten unter anderem ein früherer Innenminister, ein Ex-Generalstabschef und der beliebte Entertainer Cliff Richard. (Sebastian Borger aus London, 27.5.2022)