Seltener Einblick in die Halle des 1905-1911 erbauten Palais Stoclet: Die Fauteuils und der Schrank (links) wurden von Koloman Moser, die Lampen von Josef Hoffmann entworfen.

Foto: Christie's, Stoclet Family Archive

Adolphe Stoclet (1871–1949) ist hierzulande kaum ein Begriff, allenfalls über das in seinem Auftrag von Josef Hoffmann, der Wiener Werkstätte (WW) und einer Vielzahl von Künstlern und Handwerkern fernab von Wien realisierte Gesamtkunstwerk: das 1905 bis 1911 am Stadtrand von Brüssel erbaute und bis heute in Familienbesitz erhaltene Palais Stoclet.

Ein "signature building", das Hoffmann internationale Anerkennung bescherte und auch dem Bauherrn zu einigem Ruhm verhalf. 2009 wurde das Denkmal einer Wiener Epoche von der Unesco zu einer der Welterbestätten Belgiens ernannt. Hierzulande kennt man es hauptsächlich als kleines Architekturmodell, das sporadisch in Ausstellungen gastiert. Zuletzt in der Hoffmann-Retrospektive Fortschritt durch Schönheit im Museum für angewandte Kunst (Mak).

Die Pracht, die sich im Inneren bis heute erhalten hat, erschließt sich Interessierten allenfalls über Fotoaufnahmen oder die im Mak-Bestand erhaltenen Entwürfe für das von Gustav Klimt designte Fries für den Speisesaal des Palais.

Gesamtkosten blieben ein Geheimnis

Das Palais der Familie Stoclet überstand zwei Weltkriege unbeschadet. 2009 ernannte die Unesco den Bau als Gesamtkunstwerk zu einer der Welterbestätten Belgiens.
Foto: Imago / viennaslide

Die von Stoclet für diese repräsentative Residenz geleistete Investition muss enorm gewesen sein. Das Geheimnis um den tatsächlich gezahlten Betrag nahm der Bauherr mit ins Grab. Ein paar Hinweise gibt es: etwa den Kostenvoranschlag für die Einrichtung und künstlerischen Ausstattung, der sich 1906 bereits auf 600.000 Kronen (umgerechnet 3,45 Mio. Euro) belief. In einer im Juli 1911 an Stoclet übermittelten Aufstellung wurden die Gesamtkosten mit mehr als 1,2 Millionen Kronen beziffert.

Es war jedenfalls ein Auftrag, der dem erst 1903 gegründeten Unternehmen WW zu Prestige verhalf und die Erweiterung der Produktion ermöglichte. Davon profitierten wiederum zahlreiche heimische Handwerker sowie Künstlerinnen und indirekt auch die Entwicklung der frühen Moderne.

Wiener Beteiligungen

Die Frage nach der Herkunft des Stoclet-Vermögens stellte sich für Kunsthistoriker bisher nicht. In publizierten Fachbeiträgen fanden lediglich Beteiligungen der Familie an der Wiener Lombard-und-Escompte-Bank sowie an der Eisenbahn Wien-Aspang Erwähnung.

Letztere waren auch Anlass für die Übersiedlung Adolphe Stoclets und seiner Ehefrau Suzanne, Tochter des bekannten Pariser Kunstkritikers und Kunsthändlers Arthur Stevens, sowie Tochter Raymonde und Sohn René nach Wien. Sohn Jacques kam wenige Monate später im September 1903 in Wien zur Welt: Im Stadtpalais von Ernst Graf Hoyos-Sprinzenstein, wo die Stoclets in der Hoyosgasse 5 residierten, steuert der Genealoge Georg Gaugusch ein bisher unbekanntes Detail bei.

Suzanne und Adolphe Stoclet lebten eine zeitlang in Wien, wo auch ihr Sohn Jacques 1903 zur Welt kam
Foto: Christie's, Stoclet Family Archive

Das Ehepaar genoss das kulturelle Angebot in Wien, der Bekanntenkreis wuchs, etwa um Oskar Kokoschka, Alma Mahler, Gustav Klimt, Carl Otto Czeschka oder Fritz Waerndorfer. Der Schlüsselmoment für den späteren Bauauftrag soll sich bei einem Spaziergang auf der Hohen Warte ergeben haben, konkret angesichts einer Villa: jener von Carl Moll, 1900/01 nach Plänen von Josef Hoffman erbaut. Der Hausherr fungierte als Vermittler. Die ursprünglichen Pläne für den Bau einer Villa in Wien zerschlugen sich jedoch.

Rückkehr nach Brüssel

Im April 1904 brach Adolphes Vater Victor Stoclet beim Überqueren der Akademiestraße zusammen. Der Arzt der Rettungsgesellschaft konstatierte eine rechtsseitige Körperlähmung sowie eine vollständige Lähmung des Sprechvermögens. Vier Tage später stirbt er im Spital der Barmherzigen Brüder. Um das weitverzweigte Finanz- und Beteiligungsimperium der Familie zu übernehmen, kehrte Adolphe nach Brüssel zurück.

Ob dieses Imperium in die brutal betriebenen Kolonialgeschäfte König Leopolds von Belgien involviert war und etwaiges Blutgeld in die Wiener Kreativszene floss, ist eine angesichts der Kolonialismus-Debatte durchaus legitime Frage.

Als der STANDARD im Herbst 2018 über die Versteigerung von 28 Meisterwerken afrikanischer und ozeanischer Herkunft aus dem Familienbesitz berichtete, meldete sich ein User zu Wort: Dass "Adolphe Stoclet Direktor der Société Générale de Belgique war, die maßgeblich an der Ausbeutung des Kongos mittels Sklaverei und Zwangsarbeit verantwortlich" gewesen sei, hätte nicht unerwähnt bleiben sollen.

Ein Vorwurf, der über die deutschsprachige Literatur nicht überprüfbar ist, da dieser Aspekt nie thematisiert wurde. Genannte Société Générale de Belgique (SGB) kontrollierte eine Vielzahl belgischer Unternehmen in unterschiedlichen Branchen.

Geschäfte mit Kolonien

"An den blutigen Kautschuk- und Elfenbeingeschäften der Leopoldianischen Ära war sie jedoch nicht beteiligt", erklärt Guy Vanthemsche, emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität Brüssel. Diese Gesellschaft habe erst 1906 in den Kongo zu investieren begonnen, etwa in den Abbau von Kupfer und Diamanten oder in eine Eisenbahngesellschaft. Vanthemsche ist seit 1998 Mitglied der Königlichen Historischen Kommission Belgiens und fungiert seit 2009 auch als deren Sekretär.

Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörte auch die Kolonialgeschichte, insbesondere die von Belgisch-Kongo. "Stoclets wichtigsten geschäftlichen Verbindungen lagen außerhalb der kolonialen Welt, vor allem im Eisenbahngeschäft", so der Historiker. 1910 wurde er "Vorstandsmitglied der Compagnie du Congo pour le Commerce et l’Industrie, einer Tochtergesellschaft der Banque d’Outremer, die wiederum die Muttergesellschaft vieler kolonialer Unternehmen im Kongo war", 1928 sei er schließlich Direktor der SGB geworden, fasst Guy Vanthemsche den aktuellen Forschungsstand bezüglich Stoclets beruflicher Vita zusammen. (Olga Kronsteiner, 2.7.2022)