Fräulein Feige, Sandra Babac
Foto: Verena Carola Mayer

Das Haus von "Šinjorina Smokva", Fräulein Feige, befindet sich am Ende einer staubigen Straße. Oben lebt Sandra Babac mit Mann und zwei Kindern, unten produziert sie ihre naturreinen Marmeladen aus kroatischen Früchten. Barfuß und braungebrannt begrüßt Babac ihre Besucher am Hoftor. Hinter ihr erstrecken sich die Feigenbäume, die jetzt im Juni die ersten reifen Früchte tragen. Das heimische Obst ist so süß, so aromatisch, dass all ihre Marmeladen ohne Zucker auskommen: Feige, Quitte, Mandarine, Maraska-Kirsche. Zum Verkosten lädt sie in ihr Wohnzimmer. Auch der Wiener Sternekoch Paul Ivić und sein Souschef aus dem Restaurant Tian, Florian Burtscher, saßen hier schon.

Ivić hatte schon lange davon geträumt, sich näher mit der kroatischen Küche zu beschäftigen – der Küche des Landes, in dem sein Vater geboren wurde und in dem er als Kind mehrere Wochen im Jahr verbracht hatte.

Als das Falkensteiner Hotel im kroatischen Zadar mit der Idee eines Sommer-Pop-ups auf ihn zukam, sah er seine Chance gekommen. Ein vegetarischer Sternekoch in Kroatien, einem Land, das bekannt ist für Cevapcici und Grillplatten? Für Ivić nur logisch: Das Kroatien seiner Kindheit schmeckt nach frischem Gemüse und sonnenreifen Früchten. Fleisch gab es nur zu besonderen Anlässen.

Zur Person: Paul Ivić
Der gebürtige Tiroler erhielt 2014 als erster Küchenchef in Österreich einen Michelin-Stern für vegetarische Küche im Restaurant Tian in Wien, ein weiteres Tian befindet sich in München.
Foto: Ingo Petramer / Tian

Eineinhalb Stunden südlich von Zadar hielten sie ein paar Tiere, pflanzten Wein, Obstbäume und Gemüse. "In the middle of nowhere", doch für Ivić "der beste Platz auf Erden". Erst spät bemerkte er, wie sehr ihn seine Großeltern beeinflusst hatten. "Sie haben mich Respekt und Demut gelehrt", sagt er beim Gespräch in Wien. Gemeinsam mit Souschef Florian Burtscher, der das Pop-up vor Ort betreut, und Sommelier André Drechsel fuhr er immer wieder in die Region rund um Zadar – um Produzentinnen und Produzenten zu finden, die das "Tian Bistro am Meer" nun mit regionalen Waren beliefern.

Kulinarische Schätze

Manches war schnell gefunden: das Salz etwa, das sie aus dem nahe gelegenen Ort Nin bekommen. Das Wasser wird – wie schon zur Römerzeit – von Becken zu Becken geleitet, dabei immer konzentrierter, bis das Salz am Ende händisch abgeschöpft und in die ganze Welt verkauft wird. Die meisten Zutaten werden aber von Kleinstbetrieben bezogen, die keine internationalen Vertriebspartner und oft nicht einmal eine Webseite haben.

Tian-Kulinarik à la Kroatien
Foto: Verena Carola Mayer

Bei der Suche kam ihnen der Zufall in Gestalt von Katarina Kozina Popović zu Hilfe. Sie ist seit April Guest-Relation-Managerin des Hotels und seit über 15 Jahren Mitglied von Slow Food Kroatien. Vor allem hier in Norddalmatien sei das Konzept noch ziemlich unbekannt, sagt sie. Dabei sei die Region reich an kulinarischen Schätzen. Sie erzählt von der kroatischen Tribidrag-Rebsorte, die als Urvater von Primitivo und Zinfandel identifiziert wurde, und von den Olivenölen, die bei internationalen Wettkämpfen groß abräumten. Viele wüssten gar nicht, dass sie alte, teils vom Verschwinden bedrohte Sorten anbauen. Sie sind nicht vernetzt, betreiben kein Marketing. Man sieht sie überall am Straßenrand: An improvisierten Ständen verkaufen sie Knoblauch in langen, geflochtenen Strängen, krumm gewachsenes Obst und Gemüse und Eingekochtes. Manchmal, sagt Kozina Popović, brauche es jemanden von außen, um den Leuten die Augen zu öffnen.

Zehn Gänge zum Teilen

Ivić aber kam nicht als Lehrmeister nach Kroatien. Sicher, er ist ein vielfach ausgezeichneter Koch, ein "Masterchef", wie Kozina Popović ihn ein wenig ehrfürchtig nennt. Vor allem aber ist er ein kulinarischer Enthusiast, wissbegierig und voll kindlicher Neugierde. Als er in den Salzfeldern von Nin Meeresspargel entdeckte, fing er an zu sammeln. Dieses frische, salzige Aroma – das wollte er abends seinen Gästen servieren.

Zehn Gänge gibt es zum Teilen in der Mitte der Tafel. Wie damals auf dem Hof der Großeltern, als die Familie am reich gedeckten Tisch zusammenkam – zum Essen, Lachen, Diskutieren. Der Abend beginnt mit dem "Seinerzeit". Im Tian in Wien reist man an dieser Stelle mit Stosuppe und Schüttelbrot in Ivić’ Tiroler Heimat. Hier führt der Gang in den Gemüsegarten seiner kroatischen Großeltern. "Povratak korijenima", zurück zu den Wurzeln. Es gibt Gemüsesuppe, Olivenölemulsion und Ajvar – neben Cevapcici der zweite kulinarische Exportschlager. Das Rezept stammt von Kozina Popović’ Großmutter. Dazu gibt es Brot der Kroštula-Bäckerei in Zadar. Ein unscheinbares Geschäft mit leicht verblasstem Ladenschild, in dem Ivić nach langer Suche sein geschmackliches "Flashback" erlebte. Die schlichte Semmel zeigt, wie subjektiv das Thema Essen ist. Die Erinnerung sitzt immer mit am Tisch.

Gemüseküche

Wie auch bei dem Salat aus Gemüse und in Glut gerösteten Erdäpfeln, den Ivić’ Oma immer machte und den er zu Beginn des Pop-ups servierte. "Die Leute haben es gefeiert, aber ich war total unglücklich. Der ist nicht einmal annähernd an den Geschmack herangekommen."

Abgesehen von diesen kulinarischen Kindheitserinnerungen, die er von Zeit zu Zeit bei seinem Souschef "deponiert", hat dieser freie Hand. Generell geht es weniger um die Nachbildung traditioneller Gerichte als u das Spiel mit lokalen Aromen. "Wir wollten hier nicht ankommen und kroatische Küche auf modern machen," sagt Burtscher. Man will dem Tian-Küchenstil treu bleiben. Das heißt: keine modifizierte Fleischküche, kein vegetarisches Cevapcici auf Pilzbasis. Stattdessen reduzierte Gemüsegerichte, bei denen die Produkte in ihrer geschmacklichen Vielfalt glänzen dürfen. Wie bei Gang vier: gefüllte Zucchiniblüten, selbst angebaut vom Koch des hoteleigenen Fischrestaurants. Oder auch die Marmeladen von Sandra Babac, alias Fräulein Feige. Sie werden bald mit Pilzen oder zum Dessert auf dem Tisch landen.

Verkocht wird, was gerade Saison hat, dem Tian-Küchenstil blieb man treu.
Foto: Ingo Petramer / Tian

Die Gastfreundschaft und die Freude über das Interesse aus dem Ausland sind groß. Bei den Produzierenden ("Ich saß in mindestens fünf Wohnzimmern") und auch bei der kroatischen Belegschaft, die sie total herzlich empfangen hätten, sagt Burtscher. Im vorderen Teil der einem Labyrinth gleichenden Hotelküche darf er sich mit zwei Kollegen austoben. Gegessen wird auf der von Oleander und Rosmarin umrandeten Terrasse am Pool. In der Pause zwischen Hauptgang und Dessert versinkt die Sonne im blauen Meer.

"Lasst es euch gut gehen", habe ihnen der Chef vor der Abreise mitgegeben. Und, an seinen Restaurantleiter Peter Trattner: "Ich will jeden Tag ein Beweisfoto, wie du ins Meer hüpfst!" Fühlt sich trotz Sechstagewoche nicht wirklich nach Arbeit an, sagt dieser. Das Bistro bleibt nur am Mittwoch, wenn direkt nebenan das große Barbecue stattfindet, geschlossen. Mit seinem gastronomischen Angebot bedient das Hotel die kulinarischen Kroatien-Sehnsüchte – frischer Fisch und reichlich Fleisch – der Urlauber.

Doch wie vielerorts wächst auch hier der Wunsch nach vegetarischen Alternativen. Selbst in der kroatischen Gesellschaft tut sich etwas, ist Kozina Popović überzeugt. Seit einiger Zeit hat Zadar sein erstes vegetarisches Lokal. Mit dem Tian-Bistro will man auch Einheimische ansprechen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hotel waren nach dem Probelauf am Eröffnungstag "mega begeistert", erzählt Trattner. "Obwohl viele meinten, dass sie jeden Tag Fleisch essen." Es steht, wie in vielen anderen Ländern, noch immer für Wohlstand. Sobald es Mangold gibt, will Ivić Soparnik servieren, eine Art Gemüsepizza. Seine Tante hat ihm Rezepte geschickt. Ein "Arme-Leute-Essen" sei das. "Aber geschmacklich total geil."

(Verena Carola Mayer, 9.7.2022)

Weiterlesen:

Das vegetarische 10.000-Kalorien-Menü von Tian-Chef Paul Ivić