Daten aus den USA und Europa stützen die These, dass Verschwörungsnarrative heute ähnlich stark verbreitet sind wie schon vor zehn Jahren – und darüber hinaus.
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Querdenker, Wutbürgerinnen, QAnon-Anhänger – gefühlt gab es in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen, die absurde Verschwörungserzählungen glauben und in ihren Gruppierungen auch zum Demonstrieren auf die Straße gehen. Manche Studien deuten auch tatsächlich darauf hin, dass die Menge der Anhängerinnen und Anhänger wächst.

Doch werden wir tatsächlich anfälliger für Verschwörungstheorien – oder werden die Personen, die sie für bare Münze nehmen, immer sichtbarer? Es gibt jedenfalls auch wissenschaftliche Gegenstimmen, wie eine aktuelle Studie im Fachjournal "Plos One" zeigt: In ihr stellte das US-amerikanische Forschungsteam um Erstautor Joseph Uscinski von der Universität Miami fest, dass es keine Hinweise auf eine Zunahme der Verschwörungsanhänger gibt.

Aliens, Corona und Freimaurer

Dafür führte das Team vier Teilstudien durch. Es analysierte etwa Daten aus europäischen Ländern zu bestimmten Verschwörungserzählungen und verglich dabei die Ergebnisse der Jahre 2016 und 2018. Die übrigen Teile konzentrierten sich auf die US-amerikanische Bevölkerung. So wurde eruiert, ob konkrete Verschwörungserzählungen zugenommen haben – die 55 Beispiele drehten sich etwa um das Attentat auf Präsident John F. Kennedy, Aliens und die angebliche "Corona-Plandemie".

Der Datenschatz reichte teilweise bis ins Jahr 1966 zurück, die meisten Umfragen stammten aber aus den vergangenen zehn Jahren, was bereits verdeutlicht, dass es erst seit jüngerer Zeit mehr Forschung in diesem Teilgebiet gibt. In der dritten und vierten Teilstudie untersuchte das Forschungsteam, wer in einem Zeitraum von acht Jahren am ehesten als "Verschwörergruppe" angesehen wird – etwa Regierungen oder Organisationen wie die Freimaurer – und wie viele Menschen in verschiedenen Umfragen von 2012 bis 2021 zu konspirativem Denken neigten.

Inhalte ändern sich, der Anteil nicht

Das Ergebnis: Keine der Teilstudien deutete darauf hin, dass es einen signifikanten Trend zu mehr Verschwörungsglauben gäbe. Die Zustimmung zu einzelnen Erzählungen schwankte meist zwischen zehn und fünfzig Prozent. Etliche Erzählungen seien mit der Zeit weniger beliebt geworden, nicht einmal Covid-19- und QAnon-Verschwörungstheorien hätten den Daten zufolge mit der Zeit mehr Anhänger gefunden – wobei die Pandemie klarerweise noch nicht allzu weit zurückreicht.

Kurz gesagt: Die Daten scheinen zu zeigen, "dass sich die Inhalte ändern, an die Verschwörungsgläubige glauben, nicht aber der Anteil der Verschwörungsgläubigen an der Gesamtbevölkerung", resümiert Medienpsychologin Lena Frischlich von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Deutschland, die selbst nicht an der Studie beteiligt war. Es gebe auch weitere Studien, denen zufolge der Anteil der Verschwörungsgläubigen an der Gesamtbevölkerung konstant bleibe.

Schwierige Definition

Ein Problem am Forschungsfeld und auch an der neuen Studie sei allerdings, dass Verschwörungstheorien oft sehr breit definiert werden, im Falle dieser Forschungsarbeit nämlich generell Erklärungen von Ereignissen durch geheime Handlungen weniger mächtiger Personen gegen das Gemeinwohl, die von relevanten Organen nicht als "wahrscheinlich wahr" eingestuft werden. "Verschiedene Autor:innen haben darauf hingewiesen, dass eine solche Definition nicht ausreichend berücksichtigt, dass mächtige Personen natürlich manchmal gegen das Gemeinwohl handeln – man denke nur an Watergate", sagt Frischlich.

Stattdessen werde empfohlen, zusätzliche Kriterien heranzuziehen. Ungerechtfertigte und "demokratisch problematische Verschwörungstheorien" seien etwa zudem "nicht widerlegbar, gehen von einer unrealistischen Macht der Verschwörer:innen aus und postulieren einen apokalyptischen Kampf zwischen den 'Guten' und den unkorrigierbaren 'Bösen'".

Kritik an der Studie

Darüber hinaus lässt sich die Studie in manchen Aspekten kritisieren, sagt Kommunikationsforscher Christian Hoffmann von der Universität Leipzig, der ebenfalls nicht an der Studie beteiligt war. Der europäische Teil der Erhebung sei etwa mit zwei Jahren Differenz nur relativ kurzfristig. "Aber das Ergebnis bleibt dennoch völlig plausibel", sagt der Experte.

Welche Rolle könnten neue Medien und soziale Netzwerke bei diesem Thema spielen? Hoffmann schätzt, dass es einleuchtend sein kann, dass Verschwörungstheorien im digitalen Zeitalter stärker und schneller verbreitet werden: "Das ist möglicherweise eine Ursache dafür, dass der öffentliche Diskurs sich intensiv mit diesen Ideen befasst." Dies allein bedeute aber nicht, dass tatsächlich im Zeitverlauf immer mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben oder anfällig für diese seien.

Fruchtbarer Boden

"Der öffentliche Diskurs zu Verschwörungstheorien im Netz hat damit eine Parallele zum 'Fake News'-Diskurs: Es wird überschätzt, wie weit diese verbreitet sind, und es wird deutlich überschätzt, wie leicht sich Menschen durch Inhalte im Internet beeinflussen lassen", sagt der Medienforscher.

Kommunikationswissenschafterin Frischlich ist ähnlicher Ansicht: Obwohl Onlinemedien und -beiträge weniger stark kontrolliert werden und ein größeres Publikum erreichen können, bedeute dies nicht automatisch, dass massiv mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben. Auch die Berichterstattung über Verschwörungsnarrative bekomme mehr Aufmerksamkeit. – "Das aber durchaus mit Recht, da ja tatsächlich eine verstärkte politische Aktivität von sozialen Bewegungen, die Verschwörungstheorien offensiv vertreten, festzustellen ist", sagt Medienwissenschafter Philipp Müller von der Universität Mannheim zum Kontext der Studie.

"Besonders wichtig finde ich in diesem Zusammenhang den Hinweis, dass Verschwörungstheorien auch auf einen 'fruchtbaren Boden' fallen müssen. Die spannende Frage lautet also: Was macht Verschwörungstheorien für wen, wann und warum attraktiv und glaubhaft?", sagt Frischlich. Um diese Frage besser zu beantworten und die Entwicklung von Verschwörungsgläubigkeit besser nachvollziehen zu können, sind jedenfalls weitere langfristige Beobachtungen nötig. (Julia Sica, 21.7.2022)