"Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen", schrieb Franz Kafka 1902 an seinen Schulfreund, den Kunsthistoriker Oskar Pollak. Recht hatte er. Die Stadt zieht jährlich Millionen Besucher mit ihren gotischen Sandsteinbauten, glänzenden Fassaden und Kulturschätzen an, das wilde Nachtleben ist legendär. Wer einmal hier war, der kehrt wieder.

Nur kulinarisch, da erschöpfen sich die Eindrücke bei einem Spaziergang durch die Innenstadt auf Touristenfallen mit fünfsprachigen Speisekarten, auf denen sich vom Baumkuchen über Spareribs mit Pommes bis zum Aperol Spritz Allerweltsessen bar jeder Substanz findet. Wer hier einkehrt, braucht einen robusten Magen. Oder ein paar Gläser Pilsner mehr.

Dabei essen die Tschechen gern, gut und nicht ausschließlich deftig, obwohl ein in Prag oft zitierter Spruch besagt, dass Hunger der beste Koch sei und man als Tscheche ohnedies besser Fett verbrenne, weil man bereits von Kind an daran gewöhnt werde.

Die tschechische Küche blüht auf, indem sie lokale Produkte und Traditionen wiederentdeckt, sie mit Feingefühl und Leichtigkeit neu interpretiert – und dabei (Halleluja!) auf instagrammable Standardware wie Avocadotoasts und Matcha Latte verzichtet.

Historische Prager Bierbeiseln

Wir machen keine Umschweife, sondern kommen gleich zur Sache: Nahe der Karlsbrücke biegen wir von den Touristenpfaden ab und begeben uns "Zum goldenen Tiger" (U Zlatého tygra). Seit 1816 befindet sich in einer engen Gasse eine Bierschenke, die an der Schwelle des gotischen Eingangsportals zunächst einschüchternd wirkt. Es ist voll, stickig und laut. Hinweis: Die Kellner werden Sie nicht beachten – wenn Sie nicht resolut auftreten, dann stehen Sie am Ende mit leerem Magen da.

Die Schank und die Chefs des "goldenen Tiger".
Foto: Christian Eidherr

Regel Nr. 1: Gehen Sie zur Schank, bestellen Sie ein Bier, trinken Sie zügig. So erobern Sie sich die Gunst der Kellner. Regel Nr. 2: Ergreifen Sie Initiative, setzen Sie sich auf ein freies Platzerl an einem der Gemeinschaftstische und lassen Sie sich auf den rauen Charme der Prager ein. Vom Universitätsprofessor bis zum Boxtrainer finden alle Mitglieder der Gesellschaft ihren Platz im urigen Lokal. Bekanntester Gast war der Prager Schriftsteller und Dandy Bohumil Hrabal, dessen Bücher in zig Sprachen übersetzt wurden und der sich täglich Punkt 17 Uhr auf seinem Stammplatz beim "Tiger" einfand. "Dort ist meine Gesellschaft, das ist mein Ritual", schrieb Hrabal und verewigte die Bierschenke in der Literaturgeschichte. Wer könnte ihm widersprechen? Spätestens wenn man im Gewirr seinen Platz gefunden, das dritte Pilsner Urquell getrunken und von der Speisekarte verheißungsvolle Klassiker wie frittierte Essiggurkerln oder Gulasch bestellt, sind jegliche Widerworte vergessen.

Hinter der barocken Fassade vom "schwarzen Stier" verbirgt sich ein uriges Beisel mit Prager Originalen, viel Patina und Kozel vom Fass.
Foto: Christian Eidherr

Die Bierschenke U Černého vola ("Zum schwarzen Stier") liegt auf dem Prager Burgberg (Hradschin) gegenüber des Außenministeriums. Man beachtet die eben erwähnten Regeln, setzt sich auf die Bierbank, fordert "jedno Pivo prosim" und erhält ein Krügerl Kozel vom Fass. Arbeiter, hohe Beamte und Lebenskünstler verlieren sich in den mittelalterlichen Gemäuern zwischen Pivo und Konversationen. Es ist ein Ort, an dem soziale Dogmen aufgehoben werden und der Zeitgeist mit viel Schmäh und frei von politischer Korrektheit analysiert wird. Sobald das Bier leer ist, knallt ein muskelbepackter Kellner den nächsten Bierkrug, ohne zu fragen, auf den massiven Eichentisch.

Hier kommt Regel Nr. 3 ins Spiel: Sie müssen schon selbst "Stopp" sagen, wenn Sie nicht abgefüllt werden möchten. So wie jede Bierstube ist auch der "Stier" ein Ort von historischer Bedeutung. Während des Kommunismus trafen sich hier Regimegegner, und in den 1980er-Jahren war der Stier das geheime Redaktionsbüro der systemfeindlichen Tageszeitung "Lidove noviny". Als in den 1990er-Jahren der Verkauf des Gebäudes an einen Investor drohte, rettete eine Initiative von Stammgästen das Lokal, indem ein Teil des Gewinns an die nebenan liegende Schule für blinde Kinder gespendet wird. Die Stadt konnte den Verkauf der Immobilie nicht mehr rechtfertigen. Statt internationaler Systemgastronomie gibt es weiterhin Kozel vom Fass, Sulz, eingelegten Karpfen und – besonders empfehlenswert – in Schmalz frittiertes Schwarzbrot mit Blauschimmelkäse und Chili (Topinka s Nivou). Es ist ein guter Ort.

Am Ende wird abgerechnet. Ein Abend beim Tiger.
Foto: Christian Eidherr

Küche und Präsident

Ehe wir den Hradschin verlassen, die Moldau überschreiten und das neue Prag kennenlernen, kehren wir auf der Prager Burg im Wirtshaus Kuchyn ("die Küche") ein und schlagen die Brücke zwischen Tradition und Moderne. Ein Panoramablick über die Moldau, mit den sich im Wasser spiegelnden Jugenstilbauten, eröffnet eine prächtige Bühne für ein Mittagessen über den Dächern Prags. Traditionelle böhmische Gerichte wie Ente mit Rotkraut und Knödel oder Koprovka (eine ebenso vollmundige wie erfrischende Dillsauce auf Bechamelbasis) mit Erdäpfeln werden mit einem Touch Finesse behutsam in die Gegenwart überführt.

Gruß aus der Küche. Das Wirtshaus Kuchyn auf der Prager Burg hat einen der besten Ausblicke Prags.
Foto: Christian Eidherr

Vielleicht wäre auch Václav Havel ein Stammgast in diesem Wirtshaus, nur wenige Schritte von seinem ehemaligen Amtssitz, gewesen. Der von allen Tschechinnen und Tschechen geschätzte Havel hat sich nicht nur als Schriftsteller, politischer Vordenker und Staatspräsident, sondern auch als leidenschaftlicher Hobbykoch in der Geschichte verewigt. Anlässlich des dreißigsten Jahrestags der samtenen Revolution wurde ein Kochbuch mit Havels Rezepten herausgebeben. Sein Leibgericht war Suppe. Und die gibt es auch im Kuchyn.

  • Kuchyn: Hradčanské nám. 186/1

Gentrifizierung, Fermentiertes und Natural Wine

Auf der rechten Seite der Moldau, einen kurzen Spaziergang von der Innenstadt entfernt, liegt der Stadteil Karlìn. Das ehemals heruntergekommene Viertel, in das sich keiner verirren wollte, hat nach dem verheerenden Hochwasser 2002 eine Renaissance erfahren, bei der Vorteile der Gentrifizierung und ursprüngliche Patina keinen Widerspruch darstellen. In schattigen Alleen mischen sich Bürgerhäuser mit alten Fabriksgebäuden. Als gelernter Wiener könnte man fast sagen: Hier treffen Simmering und Alsergrund mit einer bunten Lokalszene aufeinander.

Eine Industriehalle mit offener Küche und minimalistischem Design vermittelt einen ersten Eindruck, worum es im nächsten Lokal gehen könnte: Das Bistro Eska bringt saisonale Zutaten durch Fermentation sowie Präzision auf den Wesenskern ihres Geschmacks und hüllt traditionelle böhmische Küche in ein neues Gewand. Was die skandinavische Küche zu Weltruhm gebracht hat, ist auch in Böhmen Tradition. Jeder, der Verwandte in Tschechien hat, wird bestätigen können, dass Einkochen und Fermentieren eine leidenschaftliche Beschäftigung alter Tschechinnen und Tschechen ist.

Besonders zu empfehlen sind bei Eska die Fischgerichte und Menüfolgen, in denen auch Gemüse die Hauptrolle spielen darf. Highlights beim letzten Besuch: Saibling mit Spinat, Beurre Blanc und Mangold, als Dessert ein dunkles Mousse au Chocolat mit einem Sorbet aus fermentiertem Birkensaft und Walnussmiso. Am besten, Sie überlegen gar nicht lang und bestellen das saisonale Fünf-Gang-Menü mit Weinbegleitung. Mit umgerechnet etwa 75 Euro eine Mezzie, die selbst dem Guide Michelin eine Erwähnung wert ist. Der Fokus der Weinkarte liegt klar auf Naturweinen. Es ist daher keine Überraschung, wenn man am Nebentisch auf eine bekannte Biowinzerin aus dem Burgenland trifft.

Fisch und Finesse bei Eska.
Foto: Christian Eidherr

Nach einem Abendessen bei Eska, gerne aber auch zum Aperitivo oder überhaupt am späteren Nachmittag zum Daydrinking, sollte man die Vinothek Veltlin besuchen. Hier gibt es ausschließlich sogenannte Naturweine (authentische Weine, die ohne chemische Zusätze auskommen und das Terroir widerspiegeln) aus den Gebieten der ehemaligen K.-u.-k.-Monarchie. Aber wenn man schon in Prag ist, sollte man sich nicht nur auf Bier, sondern auch auf tschechische Weine einlassen – man wird einen kulinarischen Erweckungsmoment erfahren. Repräsentativ für die neue Generation tschechischer Winzer ist Milan Nestarec, der als einer der spannendsten Produzenten Mitteleuropas gilt und mit seinen ausdrucksstarken Weinen weltweit für Furore sorgt. Zum Wein gibt es bei Veltlin Charcuterie und Käse von kleinen tschechischen Produzenten. Das Publikum ist gemischt, fröhlich, und die Sperrstunde wird gerne auch mal ignoriert.

Tipp: In der neu eröffneten Rundbar in Wien können Sie die Weine von Nestarec sowie hunderte andere Naturweine verkosten. Dazu gibt es unkomplizierte, saisonale Gerichte mit "kraftvollem Zug zum Endorphin-Zentrum".

Frisch und lokal

In Prag wird die Lebensmittelversorgung noch nicht multinationalen Supermarktketten überlassen. Das Fleischereihandwerk hat eine große Tradition, die mit Hingabe praktiziert wird. Wir überqueren den zentralen Wenzelsplatz, der vom Prachtboulevard zur Ramschmeile verkommt, biegen lieber in eine Parallelstraße ab und kehren bei Kantyna ein. Die prunkvolle Art-déco-Halle einer ehemaligen Bank wurde zum Fleischhacker mit Wirtshaus umfunktioniert. Gäste können ihr Fleisch selbst auswählen und nach eigenen Wünschen zubereiten lassen. Man steht an einem Marmortisch unter einem monumentalen Luster, isst Aged Beef Tartar, Rinderherz Pastrami oder Knochenmark. Dazu wird – wie soll es anders sein – güldenes Pilsner Urquell aus eiskalten Glaskrügen getrunken.

Kantyna: Eine Mischung aus Fleischerei und Wirtshaus im prachtvollen Art-déco-Ambiente einer ehemaligen Bank. Die Fleischqualität ist hoch, das Aged Beef Tartar auf das Wesentliche reduziert.
Foto: Christian Eidherr

Samstag Vormittag verwandelt sich das Moldauufer Naplavka in einen Bauernmarkt. Trotz der zentralen Lage und des Blicks auf die Prager Burg hat der Markt einen fast dörflichen Charme. Neben den Obst- und Gemüseständen wird hier die beste Bratwurst der Stadt gegrillt, Karpfen zu einer tschechischen Interpretation von Ceviche verarbeitet, und Omas verkaufen ihre unerreicht köstlichen hausgemachten Mehlspeisen. Kleine Bierbrauer und Winzerinnen erleichtern den Start ins Daydrinking und verleihen dem bunten Treiben den Charakter eines Kirtags.

Der Prager Bauernmarkt am Moldau-Ufer.
Foto: Christian Eidherr
  • Kantyna: Politických vězňů 1511/5
  • Bauernmarkt: Rašínovo nábřeží Vltavská, Náplavka
Frittiert und fett: Der gebackene Käse (Smažený sýr) ist ein tschechischer Klassiker.
Foto: Christian Eidherr

Paniert mit Käse

Verlassen Sie Prag nicht, ohne gebackenen Käse (Smažený sýr) zu essen. Den gibt es in jedem Wirtshaus. In der Innenstadt zum Beispiel bei Lokàl, einem Favoriten unter Einheimischen. Der große Anthony Bourdain (Rest In Paradise!) lobte panierten Käse bei seinem Trip nach Prag als delikates Hangover-Frühstück, das seiner Mentalität gerecht wird: "Your body is not a temple, it’s an amusement park. Enjoy the ride!"

(Christian Eidherr, 31.7.2022)