Bühnenbildner Márton Ágh hat die Bühne der Szene Salzburg in ein gediegenes Restaurant mit Thonet-Sesseln verwandelt.
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Dieser Reigen muss ohne Sex auskommen. Nur einmal, es ist dies gleich in der ersten von der heimischen Autorin Lydia Haider geschriebenen Szene, kommt es zu so etwas wie einer Penetration. Ein Soldat zieht an der langen Tafel, an der eine Handvoll elegant gekleidete Menschen dinieren, eine Pistole und steckt sie sich in den Allerwertesten. Der Abendgesellschaft ist das merklich egal. Statt sich zu erregen, stimmt man einen Kanon an: "Gaston Glock, lebst du noch, hörst du nicht die Glocken?"

100 Jahre nachdem Arthur Schnitzler die Aufführung seines eigenen Stücks verboten hat, in dem er seinen Zeitgenossen in zehn expliziten Szenen ihre verklemmte Sexualmoral vor Augen hielt, scheint Sex kaum jemanden mehr zu interessieren. Zumindest ist das der Eindruck, den man Donnerstagabend in der Szene Salzburg bekommen musste. Die Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele, Bettina Hering, hatte zehn zeitgenössische Autorinnen und Autoren eingeladen, die zehn Schnitzler-Szenen neu zu schreiben. Ein Korsett legte sie ihnen dabei nicht an. Das war wahrscheinlich der erste Fehler dieses ziemlich verunglückten Theaterabends.

Besticht Schnitzlers zu Ende des 19. Jahrhunderts geschriebene Theatersatire durch ihre kunstvolle Dramaturgie, in der ein Seitensprung zum nächsten führt, bis am Ende der Reigen komplett ist, hält die zehn neuen Salzburger Szenen kaum etwas zusammen. Die zehn prototypischen Figuren der Wiener Jahrhundertwende-Gesellschaft sind austauschbaren Gegenwartsfiguren gewichen. Statt Balzritualen und Posen gibt's langweiligen Beziehungssprech samt Prostatatratsch.

Reigen zwischenmenschlicher Baustellen. Im Bild: Lena Schwarz (links) und Yodit Tarikwa.
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Harmlose Paarbeziehung

Zumindest ist das in der Neufassung von Schnitzlers zentraler Szene, jener zwischen der jungen Frau und ihrem Ehemann, so. Der deutsche Schriftsteller Leif Randt hat Schnitzlers in der Mitte seines Reigens angesiedelte Szene, in der sich ein Fin-de-Siècle-Paar gegenseitig in die Augen lügt, in ein Hochzeitstagsdinner umgeschrieben: "Was haben wir nicht alles verpasst?", sagt die Frau. "Ich kenne den Text schon", sagt der Mann und hebt sein Glas.

Der Ennui dieser harmlosen Paarbeziehung wird eingerahmt von zahlreichen Problemaufrissen, die manchmal recht lose und manchmal auch gar nicht an Schnitzlers Sexkarussell angelehnt sind. Aus dem Soldaten und dem Stubenmädchen wird bei der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen ein Internettroll, der die Essensbotin anbrät, trifft das Stubenmädchen auf den jungen Herrn, ist das bei der französischen Bestsellerautorin Leïla Slimani ein für die Frau ziemlich unangenehmer Gerichtsprozess, in dem der sexuelle Übergriff des Promi-Täters thematisiert wird.

Für Sharon Dodua Otoo ist Mutterschaft eine ziemliche Herausforderung, für Hengameh Yaghoobifarah gibt es auch in lesbischen Beziehungen den Versuch, soziales in sexuelles Kapital umzuwandeln. So weit, so nah an den zwischenmenschlichen Baustellen des Jahres 2022. In zwei, drei der auf insgesamt zehn Schauspieler aufgeteilten Szenen schleichen sich allerdings auch die politischen Konflikte der Gegenwart in die von der lettisch-amerikanischen Regisseurin Yana Ross inszenierte Schnitzler-Paraphrase. Im Vorfeld der Produktion haben sie und der Schweizer Autor Lukas Bärfuss das Sponsoring der Festspiele durch das Schweizer Bergbauunternehmen Solway problematisiert und damit ein kleines Beben in Salzburg ausgelöst. Der Sponsoringvertrag wurde mittlerweile gelöst, die Frage, welche privaten Gelder in Zukunft in die Kultur fließen sollen oder können, aber ist noch lange nicht geklärt.

Revolver im Allerwertesten? Elegante Tafelrunde mit (von links) Sibylle Canonica, Matthias Neukirch, Urs Peter Halter, Yodit Tarikwa und Michael Neuenschwander.
Foto: APA / BARBARA GINDL

Anspielung auf Solway

"Kunst gilt es zu fördern – jederzeit und überall, und dafür ist mein Geld da", sagt der Graf beim schwedischen Autor Jonas Hassen Khemiri: "nicht nur in den undemokratischsten Ländern der Welt, sondern auch hier". Aus Schnitzlers Grafen ist ein Oligarch geworden, bei Lukas Bärfuss erfährt man in der Abschlussszene schließlich auch, womit dieser sein Geld verdient: mit Nickel. Nach diesem Rohstoff schürft auch Solway. Leider bleibt Bärfuss' Szene arg rätselhaft, und Yana Ross tut in ihrer Inszenierung wenig, um die karge Szene auf den Boden zu bringen. Die Regisseurin hat es an diesem Abend aber auch wirklich schwer: Neben den zehn disparaten Szenen muss sie zusätzlich mit dem Einheitsbühnenbild von Márton Ágh fertigwerden, der die Bühne der Szene Salzburg in ein gediegenes Restaurant mit Thonet-Sesseln verwandelt hat. So hübsch der verspiegelte Speisesaal anfänglich wirkt, so unpraktikabel ist er, vor allem je länger dieser mit dem Schauspielhaus Zürich koproduzierte Abend geht.

Die Schnitzler-Neudichtungen als vertane Chance also? Nicht ganz. Dem russischen, nach Finnland emigrierte Schriftsteller Mikhail Durnenkov gelingt mit seiner als Video zugespielten Szene die Ehrenrettung dieses Salzburger Unterfangens: Ein Mann erklärt seiner Mutter über Skype, warum er mit seiner Familie samt bestem schwulem Freund nach Prag emigriert. Die zwei Welten, die hier digital aufeinanderprallen, könnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Und doch sind sie bedrückend nah. Die beredte Sprachlosigkeit, die früher einmal rund um den Sex geherrscht hat, sie herrscht heute ganz anderswo. (Stephan Hilpold, 29.7.2022)