2016 gewann Sharon Dodua Otoo den Bachmannpreis. Damit gingen große Erwartungen an die Autorin einher – nicht nur literarischer Natur. Als erste Schwarze, die den Preis gewonnen hatte, als Aktivistin und migrantische Frau sollte Otoo auch die deutsche Literaturszene diversifizieren.

Foto: Ralf Steinberger

Wir erreichen Sharon Dodua Otoo in Salzburg. Bei den Festspielen wurde eine Neufassung von Schnitzlers Reigen aufgeführt; an zehn gerade sehr gefragte literarische Stimmen wie Leif Randt oder Hengameh Yaghoobifarah war der Auftrag ergangen, jeweils einen der Dialoge des Stücks zu überschreiben. So auch an Sharon Dodua Otoo. Gefragt ist die Autorin, seit sie 2016 mit ihrer Kurzgeschichte Herr Gröttrup setzt sich hin, in der sie die deutsche Kultur aus Perspektive eines Frühstückseis seziert, den Bachmannpreis gewann.

Es war der erste Text, den die 1972 in London geborene Autorin mit ghanaischen Wurzeln auf Deutsch geschrieben hatte. Über Nacht wurde Otoo, die 2006 nach Berlin gezogen war, zu einer Hoffnungsträgerin der deutschen Gegenwartsliteratur – nicht nur weil die Autorin durch ihre Beobachtungsgabe und der Text durch Humor und sprachliche Magie hervorstach, sondern auch weil Otoo mit ihrer Biografie, ihrem Schwarzsein und ihrem Aktivismus als Ausnahmeerscheinung galt.

2021 erschien ihr vielbeachteter erster Roman, Adas Raum, der die leidvollen Geschichten von vier Frauen imaginiert, die zu unterschiedlichen Momenten in der Geschichte Gewalt und Diskriminierung erfahren.

Der Band, der gerade erschienen ist, dreht sich aber um den Bachmannpreis. Neben einem neuen Text namens Härtere Tage vereint er die siegreiche Geschichte Herr Gröttrup setzt sich hin und die Eröffnungsrede, die Otoo beim Bachmannpreis 2020 hielt, Dürfen Schwarze Blumen malen. In der Rede erklärte Otoo unter anderem, warum sie das Wort schwarz im Sinne einer politischen Selbstbezeichnung groß schreibt. Auf dieser Schreibweise hat die Autorin auch in ihre Antworten im folgenden Gespräch bestanden.

STANDARD: Frau Otoo, Sie wurden 2016 durch das Gewinnen des Bachmannpreises von einer unbekannten Autorin über Nacht zu einer wichtigen deutschen Autorin. Welche Erwartungshaltung ging damit einher?

Sharon Dodua Otoo: Aus der Perspektive der weißen Gesellschaft war da auf einmal eine – so wurde es oft beschrieben – "neue" deutschsprachige Literatur von einer Schwarzen, migrantischen Frau, die Worte wie Aktivismus, Rassismuskritik und Feminismus in den Mund nimmt. In der Rezeption war ein Optimismus zu spüren, dass mein Gewinn ein Beweis dafür wäre, dass wir Ausgrenzung in der deutschsprachigen Literatur endlich überwunden haben. Wenn ich dann bei Lesungen saß – und ich bekam unglaublich viele Anfragen –, war die Erwartungshaltung an mich bezüglich der Vielzahl von Themen, die ich abdecken sollte, sehr groß.

STANDARD: Was haben Sie von sich selbst erwartet?

Otoo: Ich habe sehr viel von mir gewollt. In meiner Wahrnehmung war die deutschsprachige Literaturszene eine geschlossene, homogene Veranstaltung, zu der nur bestimmte Leute Zugang hatten. Ich wollte den Spalt, der durch meinen Gewinn in der Tür aufgegangen war, offen halten und möglichst viele Leute reinbringen. Das habe ich auch sehr gerne gemacht, aber es geht ein großer Druck damit einher. Nun sehne ich mich danach, Momente genießen zu können, in denen es vorwiegend darum gehen wird, was ich mit meiner Literatur künstlerisch umsetzte, auch wenn das nie zu 100 Prozent von meinem Aktivismus zu trennen sein wird.

STANDARD: Einerseits sind Sie als Person of Color, die in einer weißen Mehrheitsgesellschaft lebt, vermutlich permanent alltäglichem Rassismus ausgesetzt, auf der anderen Seite werden Sie von der Literaturszene hofiert. Wie erleben Sie diese zwei unterschiedlichen Welten?

Otoo: Das ist so eine aktuelle Frage! Je mehr Erfolg und Ansehen ich bekomme, je reicher ich im Sinne des sozialen Kapitals werde, desto mehr sehe ich diese Kluft. Wenn ich in einem Hotel eintreffe, wo man mich als Sharon Dodua Otoo, Bachmannpreisträgerin, erwartet, werde ich ganz anders behandelt, als wenn ich privat als die Schwarze Frau, die ich auch bin, ankomme. Ich bin fast froh darüber, dass ich dadurch keine Illusionen habe, wie weit wir als Gesellschaft wirklich sind. Die meisten weißen Menschen denken, dass Rassismus erst beginnt, wenn etwas passiert, wo auch sie sagen würden, dass es rassistisch war. Alles andere läuft unter "Du bist sensibel, das war sicher nicht so gemeint". Aber Diskriminierung beginnt eben nicht mit Gewalt und Hass, sondern dort, wo manche Menschen aufgrund des Wertes, der einem physischen Merkmal wie zum Beispiel dem Hautton beigemessen wird, als selbstverständlich dazugehörend wahrgenommen werden und andere nicht.

STANDARD: Im dritten Text Ihres aktuellen Bandes schreiben Sie über Ihren Vater: "Wie es ihn nerven muss, dass du dich rassismuskritisch engagierst (…). Und dann kommst du und insistierst, nicht nur, dass du Schwarz bist, sondern du schreibst das Wort auch noch groß." Wie verzweifelt man nicht daran, mit seinen Anliegen oft schon bei den eigenen Eltern auf Unverständnis zu stoßen?

Otoo: Es ist wirklich schwer, und genau darüber wollte ich in diesem Text nachdenken. In meiner Kindheit ging es meinen Eltern vor allem darum, ökonomisch voranzukommen. Sie waren in der Hinsicht ganz klassisch migrantische Eltern. Sie wollten, dass meine Geschwister und ich Medizin oder Jura studieren. Ich war da immer anders, habe mich für Musik, Kunst, Literatur interessiert. Ein Verständnis für mein politisches Schwarzsein habe ich nicht von ihnen, sondern mir mühsam Stück für Stück zusammengebastelt. Und so sind wir noch weiter auseinandergedriftet. Wir können zwar auf Englisch miteinander reden, aber inhaltlich verstehen wir uns nicht, fürchte ich. Jetzt bin ich Schriftstellerin, und ich glaube, dass für meine Eltern meine Existenz als solche gewissermaßen gerechtfertigt ist, weil ich für sie offenbar Erfolg damit habe. Aber wenn ich ihnen versuchen würde zu beschreiben, was in Adas Raum passiert, bin ich unsicher, ob sie mit der Geschichte etwas würden anfangen können.

STANDARD: Adas Raum ist unter anderem ein Roman, der sich mit den Mitteln der Imagination gegen eine weiße Geschichtsschreibung wehrt und eine andere Erzählung lanciert. Haben Sie dabei eine besondere Verantwortung empfunden, es nun "richtig" zu machen?

Otoo: Das sind zwei Sachen. Dass ich eine Verantwortung spüre, unterschreibe ich. Ich möchte nicht, dass das, was ich in die Welt hineinprojiziere, für marginalisierte Menschen schädlich ist. Das ist mein Anspruch an meine Literatur: Keine Person, die sowieso unterdrückt wird, soll zu Schaden kommen. Ob die Handlung faktisch "richtig" ist, darum ging es mir nicht. Es war eher ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir als Individuen mehrmals leben und eine Aufgabe zu erledigen hätten? Dann habe ich verschiedene historische Momente gewählt, um dieses "Was wäre, wenn" durchzudenken. Natürlich war es wichtig, dass ich da keinen großen Unsinn baue, dennoch ist es explizit kein historischer Roman. Ich habe zum Beispiel eine Liebesaffäre zwischen Ada Lovelace und Charles Dickens erfunden. Neulich habe ich erfahren, dass sich eine Person deswegen angelogen gefühlt hatte. Da war ich doch ein bisschen perplex. Es ist Fiktion!

STANDARD: Sie wurden dafür kritisiert, in Adas Raum Kolonialismus und Shoah zu parallelisieren. Bereuen Sie nun mit etwas Abstand Ihre Entscheidung, die Episode, in der wir einer der vier Adas als Zwangsprostituierter in einem KZ begegnen, in Ihrem Roman verhandelt zu haben?

Otoo: Ich bereue das nicht. Ich glaube, die Debatte, ob man irgendwas mit der Shoah vergleichen kann und ob es ethisch richtig oder möglich ist, Kolonialismus und Shoah im gleichen Satz zu sagen, ist eine explizit deutsche. Davor habe ich Respekt, und ich will mir nicht anmaßen zu entscheiden, was richtig oder falsch ist. Ich möchte aber sowohl als Schriftstellerin, die eine britische Sozialisation genossen hat, als auch als Nachfahrin einer kolonisierten Gesellschaft meine Perspektive auf diese Diskussion einbringen. Wichtig dabei ist zu begreifen, aus welcher Position heraus eine Person spricht und mit welchen Erfahrungen und welcher Absicht sie sich in so eine Debatte einbringt. Ich habe zum Beispiel von Menschen wie Susan Neiman gelernt, dass, wenn in den 1950er- Jahren weiße Deutsche gesagt haben "Ach, die Shoah! Das war eine von vielen Sachen, die schlimm waren", das aus einer entlastenden Absicht heraus kommt, die von der eigenen Verantwortung wegweisen will. Das ist offenbar nicht das, was ich mit meiner Literatur bezwecke, und es ergibt wenig Sinn, die zwei Positionen gleichzusetzen.

STANDARD: Das Argument mit der Perspektive könnte doch auch ein weißer Mann verwenden, wenn er aus der Perspektive einer Schwarzen schreibt?

Otoo: Also erstens habe ich im Erzählstrang, der 1945 spielt, sehr bewusst nicht aus der Perspektive einer jüdischen Frau geschrieben, wie oft zu lesen war. Die Zwangsprostituierten waren keine Jüdinnen. Das möchte ich nur klarstellen. Zweitens gehöre ich nicht zu der Fraktion, die sagt, man dürfe nicht aus anderen Perspektiven schreiben. Sowieso habe ich in diesem Kontext wenig für das Wort "dürfen" übrig. Es passt einfach nicht. Wenn du eine weiße Person bist und eine Schwarze Figur schreibst, finde ich es richtig und wichtig zu hinterfragen, was du damit bezwecken willst. Ich habe einmal ein Buch eines weißen Autors gelesen, und eine seiner Figuren war eine junge Nigerianerin, die geflohen und dann in England gelandet ist. Die Geschichte, die Stimme, die Bilder, die er gefunden hat, um diese Frau zu beschreiben und zum Leben zu bringen, waren unglaublich gut. Der hat seine Hausaufgaben gemacht. Trotzdem verstehe ich, wenn andere Menschen das kritisch sehen.

STANDARD: Wie sieht es aus, wenn die Hausaufgaben nicht gemacht werden?

Otoo: Was ich wirklich nicht mag, sind Menschen, die denken, es stünde ihnen zu, solche Figuren einsetzen zu können, ohne sich mit der Marginalisierung, also mit den tatsächlich erlebten Erfahrungen auseinandergesetzt zu haben. Oft wissen wir bei weißen Schreibenden, dass Figuren Schwarz sind, weil die Figuren es explizit sagen, und nicht etwa, weil sie sich so bewegen, klingen, entsprechende Erfahrungen machen, gewisse Codes draufhaben. Die andere Sache, die wir bedenken müssen, ist, dass es Machtstrukturen und Ungleichheiten gibt. Das bedeutet, dass marginalisierte Menschen aktuell nicht annähend ausreichend die Zugänge, die Ressourcen und das kulturelle und soziale Kapital haben, die privilegierte Menschen genießen.

STANDARD: Wie gehen Sie damit um, wenn Sie Figuren beschreiben wollen, deren Erfahrungen Sie nicht selbst gemacht haben?

Sharon Dodua Otoo, "Herr
Gröttrup setzt sich hin. Drei Texte". 18,– Euro / 64 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022
Foto: S. Fischer

Otoo: Ich überlege es mir zum Beispiel sehr gut, wie ich als Hetera eine lesbische Figur schreibe. Bisher schreibe ich sie nicht aus der Ich-Perspektive heraus. Ich empfinde das als heikel, weil es so gelesen werden könnte, als würde ich damit sagen: Ich habe das schon drauf, ich kann das schon abdecken, also brauchen wir queere "own voices" nicht. Darüber müssen wir nachdenken. Wer hat die Möglichkeit, eine eigene Geschichte zu erzählen?

STANDARD: In Rezensionen zu Adas Raum sind immer wieder die Begriffe magischer Realismus und Afrofuturismus aufgetaucht, gleichzeitig sind Sie Brecht-Fan. Wenn man daraus eine Synthese ziehen will, wäre es wohl, mit den Mitteln einer "magischen Sprache" eine Realutopie zu schaffen.

Otoo: Da bin ich eher von der Schriftstellerin Toni Morrison geprägt, weil sie Sachen beschreibt, die passiert sind, die krass, gewaltvoll und verstörend sind, aber eine poetische, wunderschöne Sprache dafür gefunden hat. Brecht ist didaktischer in seinen Absichten als ich. Menschen wachzurütteln ist nicht unbedingt die Absicht meiner Literatur.

STANDARD: Denken Sie, dass Sie als Nichtmuttersprachlerin der deutschen Sprache etwas hinzufügen können, dass Sie sozusagen etwas sehen, was wir nicht sehen?

Otoo: Ganz am Anfang habe ich Deutsch – das wird jetzt nicht nett klingen, aber ich meine es nicht fies – als eine Lego-Sprache bezeichnet. Es gibt das Wort krank und dann hat man Krankenhaus, Krankenwagen, Krankenschwester. Das finde ich großartig! Ich verstehe bis heute nicht, warum wir im Englischen die Worte "hospital", "ambulance" und "nurse" verwenden. Aber irgendwann, als ich kreativ schreiben wollte, fand ich viele deutsche Vokabeln zu eindeutig. Die große Herausforderung für mich war zu versuchen, in dieser Sprache Ambivalenz zum Ausdruck zu bringen, also Uneindeutigkeit. Wir müssen mit der deutschen Sprache kreativ viel arbeiten, um Interpretationsmöglichkeiten zu schaffen. Für mich, die Deutsch als eine später erlernte Sprache spricht, ist es spannend, was ich mit meiner Perspektive in die Sprache hineinbringe. Ich bin dankbar für meinen Lektor. Er versteht, dass es mir nicht darum geht, einen Text zu schreiben, der durchkorrigiert und ausgebügelt ist. Die Lesenden sollen ruhig merken, dass ich Deutsch später im Leben gelernt habe. Denn das ist Teil der Erzählung. (Amira Ben Saoud, ALBUM, 7.8.2022)