Sachspenden oder Geldspenden? Wie viel und wohin damit? Welche Hilfe am effektivsten ist, lasse sich vernünftig berechnen, glauben Effektive Altruisten.

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Schon als Teenager habe sich Anna Riedl häufig die Sinnfrage gestellt: Was macht ein gutes Leben aus? Was kann ich selbst dazu beitragen? Sie engagierte sich im Tierrecht, wurde Veganerin – doch erst als sie als Psychologiestudentin in Wien vom Effektiven Altruismus hörte, fand sie wirklich das, wonach sie suchte. Sie begann, Literatur zu dem Thema zu lesen und selbst Veranstaltungen zu organisieren. Vor allem unter Studierenden sei das Interesse an der Idee groß gewesen, und schon bald bildete sich eine eigene Community in Österreich. Was aber sind und wollen Effektive Altruisten?

"Die zentrale Frage ist: Wie kann ich auf vernünftige Weise viel Gutes tun?", sagt Riedl. Es gehe darum, eigene Denkfehler zu hinterfragen, nicht einfach nur nach dem Bauchgefühl oder Herzen zu handeln, sondern nach dem Verstand. Das Ziel: Die begrenzten Ressourcen Zeit und Geld möglichst effizient einzusetzen, um das größtmögliche Gute auf dieser Welt zu bewirken.

Gegen Pandemien und KI

Was vor zehn Jahren als Nischenbewegung in den USA und Großbritannien startete, ist weltweit zu einer Milliarden Dollar schweren Gruppierung herangewachsen. Die Anhänger des Effektiven Altruismus sitzen heute in San Francisco, New York, London, Berlin, Sydney oder auf den Bahamas, leiten Weltkonzerne und beeinflussen mit ihren Spenden nicht nur die Arbeit von Hilfsorganisationen in Entwicklungsländern, sondern auch die Politik im eigenen Land.

Längst geht es um mehr als "nur" darum, die Armut im Hier und Jetzt zu lösen. Effektive Altruisten wollen die Menschen der Zukunft vor neuen Pandemien oder übermächtiger künstlicher Intelligenz bewahren. Doch hinter den Versprechen verstecken sich auch persönliche Interessen. Wie viel Hoffnung oder Skepsis ist gegenüber der neuen Bewegung gerechtfertigt?

Wachsende Anhängerzahl

Geht es nach den Zahlen der Effektiven Altruisten, haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen ihrer Bewegung angeschlossen. Mehr als 7.000 engagierte Anhängerinnen der Idee gebe es mittlerweile überall auf der Welt. Dutzende Lokalgruppen und Freiwillige wie Anna Riedl versuchen die Idee in Städten wie Wien, Berlin oder San Francisco bekannt zu machen.

Zwar steht die Bewegung immer noch am Anfang. Gerade in den vergangenen Jahren gesellten sich ihr aber auch Menschen hinzu, die mit ihrem Vermögen bereits einen bedeutenden Einfluss auf Wirtschaft und Politik haben. Dazu zählen etwa der US-amerikanische Kryptomilliardär Sam Bankman-Fried oder Facebook-Mitgründer Dustin Moskovitz. Und sogar Elon Musk zeigte kürzlich Interesse an der Idee. Im vergangenen Jahr standen laut Schätzung der Bewegung rund 46 Milliarden Dollar für Effektiven Altruismus zur Verfügung, 420 Millionen Dollar würden bereits jedes Jahr "möglichst effektiv" gespendet.

Moralische Verpflichtung

Dabei sei die Frage, ob wir Gutes tun wollen, eigentlich keine Frage des Wollens, sondern eine des Müssens. Wir haben eine moralische Verpflichtung, das Leid auf dieser Welt so gut wie möglich zu minimieren, sagt der australische Philosoph Peter Singer, der vielen Effektiven Altruisten als Inspiration für die Idee gilt.

Um sein Argument zu bekräftigen, stellte Singer vor vielen Jahren ein einfaches Gedankenexperiment auf: Stellen Sie sich vor, Sie gehen bei einem Spaziergang an einem Teich vorbei und sehen, dass dort ein Kind am Ertrinken ist. Ziemlich sicher würden Sie versuchen, das Kind aus dem Teich zu retten. Damit hätten Sie jedoch auch die Verpflichtung, Kinder in anderen Teilen der Welt im übertragenen Sinne vor dem Ertrinken zu bewahren. Denn das Leben von Menschen in der unmittelbaren Umgebung sei gleich viel Wert wie jenes von Menschen in fernen Ländern.

Mit wenig Geld viel bewirken

Zugleich schlug Singer vor, Spenden und Hilfe nicht nach persönlichem Gefühl oder Empathie, sondern nach einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung zu verteilen. Wo und wie können 10.000 Euro am meisten auf dieser Welt bewirken? Wie kann ich mit meiner Arbeit und meinen Fähigkeiten am meisten Gutes tun, wie die meisten Menschenleben retten? Sicher wäre es effektiver, mit 10.000 Euro mehrere Dutzend Augenoperationen für sehkranke Kinder in einem afrikanischen Land als einen Blindenhund für einen blinden Menschen in Österreich zu finanzieren, so das Argument.

Kaum jemand war von Singers Ideen so begeistert wie William MacAskill. Als der Schotte und spätere Philosophiestudent der Universität Oxford im Alter von 18 Jahren erstmals auf Singers Arbeit stieß, beschloss er, selbst nach den fordernden Moralgrundsätzen Singers zu leben. Laut eigenen Angaben begann MacAskill, der heute zu den bekanntesten Befürwortern des Effektiven Altruismus zählt, seine persönlichen Ausgaben einzuschränken und einen guten Teil seines damaligen Studenteneinkommens für wohltätige Zwecke zu spenden.

Zehn Prozent des Einkommens spenden

2008 gründete MacAskill gemeinsam mit dem Philosophen Toby Ord die Gruppe "Giving what we can", deren Mitglieder sich verpflichteten, jedes Jahr zehn Prozent ihres Einkommens für Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden. Drei Jahre später rief MacAskill dann die Organisation 80.000 Hours ins Leben. Diese sollte vor allem jungen Studierenden Ratschläge geben, mit welchen Jobs sie den größten sozialen Nutzen erzielen können. Und als schließlich beide Initiativen in einer Organisation zusammenkamen, nannten ihre Mitglieder diese das "Zentrum für Effektiven Altruismus", womit auch der Name der Bewegung geboren war.

Gleichzeitig entstand in New York eine Organisation, die sich ähnlichen Zielen verschrieben hatte und die sich Give Well nannte. Das Ziel der Gruppe war es, die "effektivsten" Wohltätigkeitsorganisationen für individuelle Spender zu finden. "Effektiv" bedeutet in diesem Fall, wie vielen armen Menschen auf dieser Welt wie gut geholfen wird, hieß es von der Organisation. In den darauffolgenden Jahren empfahl die Gruppe Spenderinnen und Spendern vor allem internationale Hilfsorganisationen, die sich etwa auf die Bereitstellung von Anti-Malaria-Bettnetzen in Ländern in Subsahara-Afrika spezialisiert hatten.

Auch Elon Musk interessiert

Durch das wachsende Netzwerk gewann der Effektive Altruismus zunehmend an Bedeutung – und nebenbei auch einige finanzielle Schwergewichte als Unterstützer. Darunter den Facebook-Mitgründer Dustin Moskovitz, der in einer eigens gegründeten Stiftung laut eigenen Angaben knapp zwei Milliarden Dollar "möglichst effektiv" gespendet hat. Zudem den US-Kryptomilliardär Sam Bankman-Fried, der wiederholt versprochen hat, 99 Prozent seines Vermögens möglichst effektiv zu spenden.

Auch der Kryptomilliardär Samuel Bankman-Fried ist Teil der Effektiver-Altruismus-Bewegung.
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Und sogar Tesla-Gründer Elon Musk ließ sich Medienberichten zufolge kürzlich von dem russisch-deutschen Pokerspieler Igor Kurganow beraten, wie er sein 230 Milliarden schweres Vermögen im Sinne des Effektiven Altruismus spenden könne – entschied sich letzten Endes jedoch nicht für dessen Ratschläge.

Verdienen, um zu geben

Wer mehr Geld hat, kann auch mehr Gutes tun, so die Idee einiger Effektiver Altruisten wie etwa Bankman-Fried. "Verdienen, um zu geben", lautet das Motto. Das bedeutet: zuerst in möglichst gut bezahlten Jobs arbeiten und ein möglichst großes Vermögen anhäufen, dann dieses Geld möglichst effektiv spenden.

Zumindest sein Vermögen konnte Bankman-Fried bereits gut aufbauen. Der Geschäftsführer der Kryptowährungsplattform FTX besitzt ein Nettovermögen von rund 20 Milliarden US-Dollar. Was "möglichst effektiv spenden" bedeutet, ist jedoch selbst unter Effektiven Altruisten umstritten.

Geld für politischen Einfluss

So spendete Bankman-Fried sein Geld bisher vor allem für politische Zwecke: Mehr als fünf Millionen Dollar für die Präsidentschaftskampagne von Joe Biden, rund zehn Millionen Dollar, um Carrick Flynn, einen langjährigen Aktivisten des Effektiven Altruismus, in den US-Kongress zu befördern, was jedoch erfolglos blieb. Bei der Präsidentschaftswahl 2024 wolle er zwischen 100 Millionen und einer Milliarde Dollar spenden, kündigte er an.

Kritiker werfen Effektiven Altruisten wie Bankman-Fried vor, lediglich ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Anstatt Gutes zu tun, versuche Bankman-Fried durch Lobbying in Washington eine stärkere Regulierung von Kryptowährungen zu verhindern – und damit das Geschäft seines Unternehmens voranzutreiben.

Schutz vor künftigen Bedrohungen

Bankman-Fried wiederum gibt an, ihm gehe es darum, mit seinen Spenden die nächste Pandemie zu verhindern und die Menschheit vor zukünftigen Bedrohungen zu bewahren. Vor wenigen Monaten hat er gemeinsam mit einigen Kolleginnen das Projekt Future Fund gestartet. Das Ziel: die langfristigen Zukunftsaussichten der Menschheit durch eine "sichere Entwicklung von künstlicher Intelligenz, eine Reduktion des Risikos künftiger Pandemien, bessere Institutionen und Wirtschaftswachstum" zu verbessern.

Auch William MacAskill, mittlerweile die Leitfigur vieler Effektiver Altruisten, hat sich auf die ferne Zukunft konzentriert. Sein Gedanke, den er in einem Beitrag für die BBC und in seinem in diesem Jahr erscheinenden Buch "What We Owe to the Future" formuliert: Rund 118 Milliarden Menschen hätten auf dieser Erde bisher bereits gelebt. Aber millionenmal mehr Menschen werden in Zukunft auf dieser Erde leben. Wir sollten uns daher darauf konzentrieren, langfristige bedrohliche Szenarien wie eine nukleare Katastrophe oder eine übermächtige künstliche Intelligenz zu verhindern, so MacAskill. Dazu gehöre, diese Risiken besser zu erforschen, sich in Jobs gegen diese Bedrohungen einzusetzen oder etwa für die Entwicklung neuer Impfstoffe zu spenden.

Viel Kritik

Kritiker werfen Effektiven Altruisten wie MacAskill vor, gegenwärtige Probleme wie die bestehende Armut oder die Auswirkungen des Klimawandels durch eine solche langfristige Perspektive zu vernachlässigen. Laut MacAskill kann der Fokus auf die ferne Zukunft jedoch auch Menschen in der Gegenwart helfen: etwa wenn durch Forschung zur nächsten Pandemie auch die Behandlungen im Hier und Jetzt profitieren. Oder wenn der Ausbau von erneuerbaren Energien bereits heute die Luftverschmutzung verringert.

Aus der grundsätzlichen Kritik kann sich der Effektive Altruismus dennoch nur schwer befreien. Können wir tatsächlich viele Menschenleben gegen einige wenige aufrechnen? Wer beurteilt, welche Maßnahme effektiv ist, und was soll Effektivität überhaupt genau bedeuten? Liegt die Beurteilung, welche Projekte unterstützenswert sind, nicht auch im Auge des Betrachters? Lassen sich die Effekte von Maßnahmen, die langfristig ausgelegt sind, überhaupt beziffern? Und heiligt der Zweck die Mittel? Wäre es also legitim, in einem umstrittenen Konzern zu arbeiten, solange ich den Großteil des Geldes möglichst effektiv spende?

Nicht alles perfekt

Anna Riedl kennt die Debatten. "Effektive Altruisten sind eben auch nur Menschen", sagt sie. Vieles sei nicht perfekt, aber die Arbeit und der Wille, die Welt ein Stück besser zu machen, seien da. Was am besten zu tun ist und welche Themen am wichtigsten sind, sei immer eine Kombination aus dem, was Effektive Altruisten persönlich interessiere und was tatsächlich gesellschaftlich wichtig ist – und Teil eines Gesprächs, an dem sich möglichst viele Menschen beteiligen sollten, sagt Riedl.

Die 30-Jährige möchte in den nächsten Jahren ihre eigene Forschung vorantreiben: darüber, wie und wann Menschen rationale Entscheidungen treffen – und damit auch ein Stück weit zum Effektiven Altruismus beitragen. "Ich hoffe, dass wir den Kerngedanken des Effektiven Altruismus auch in Zukunft bewahren können", sagt sie. Die Frage zu stellen: Was ist wahr? Und was hilft tatsächlich anderen Menschen? "Alles andere ist nebensächlich." (Jakob Pallinger, 20.8.2022)