In den vergangenen Tagen sind Sorgen vor einem nuklearen Zwischenfall im Ukraine-Krieg neuerlich aufgeflammt: Moskau und Kiew werfen sich gegenseitig den Beschuss des von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerks Saporischschja im Süden des Landes vor. Zu zehn Einschlägen "in der Nähe" des AKWs soll es zuletzt wieder gekommen sein. Schon im März machte sich Nervosität breit, als von einem Brand auf dem AKW-Gelände die Rede war. Betroffen war damals aber lediglich ein Schulungsgebäude. Auch aktuell gibt die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) Entwarnung: Das größte Kernkraftwerk Europas stelle derzeit kein Sicherheitsrisiko dar. "Dies kann sich jedoch jederzeit ändern", sagt ihr Chef Rafael Grossi.

Frage: Wie ist die Lage im AKW Saporischschja?

Antwort: Seit Tagen wird aus der Gegend um das AKW erneut heftiger Beschuss gemeldet. Russland und die Ukraine schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Europas größtes Atomkraftwerk wurde im März von der russischen Armee besetzt, wird aber weiter von dem ukrainischen Staatskonzern Energoatom und dessen Belegschaft betrieben. Diese nahm am Freitag einen der sechs Reaktoren vom Netz, nachdem eine für den Betrieb wichtige Hochspannungsleitung durch russischen Artilleriebeschuss beschädigt worden sei. Allerdings war der Reaktor vorher nicht aktiv in Betrieb. Das russische Staatsfernsehen zeigte am Wochenende dagegen Bilder, die ukrainische Raketeneinschläge an Nebengebäuden des Kraftwerks zeigen sollen. Auch am Donnerstag warfen sich beide Seiten neuerlich vor, das AKW erneut unter Beschuss genommen zu haben. Aus Sicherheitsgründen erwägt nun aber offenbar sogar die russische Seite, ihre Truppen rund um Saporischschja abzuziehen. Es könnte eine Art entmilitarisierte Zone ausgerufen werden. Das deutete zumindest der Vizechef des Außenausschusses im russischen Parlament, Wladimir Dschabarow, am Freitag an.

Ein russischer Soldat vor dem AKW Saporischschja.
Foto: REUTERS/Alexander Ermochenko

Frage: Wie groß sind die Schäden an der Anlage?

Antwort: Sebastian Stransky, ein Experte für Reaktorsicherheit, der die Anlage in Saporischschja gut kennt, erklärte in einem "Spiegel"-Interview, dass die sicherheitsrelevanten Einrichtungen des AKWs bisher nicht beeinträchtigt worden seien. Auch das Umweltministerium in Wien meldete am Montag normale Strahlenwerte. Das entspricht der Darstellung von IAEA-Chef Grossi, der den Uno-Sicherheitsrat am Donnerstag über die Gefahrenlage informiert hat. Seiner Ansicht nach sind die Angaben Russlands und der Ukraine oft widersprüchlich. Grossi bestätigte aber, dass Explosionen auf dem Gelände am vergangenen Freitag die Abschaltung mehrerer Umspanner notwendig gemacht hätten und daher ein Reaktor vom Netz genommen wurde. Jedoch hätten die Kämpfe die nukleare Sicherheit bisher nicht gefährdet. Er forderte Moskau und Kiew dennoch auf, den Besuch internationaler Experten schnell zu ermöglichen, um wichtige Fakten zusammenzutragen.

Frage: Wieso ist es dazu noch nicht gekommen?

Antwort: Der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja sagte Grossi zwar die Kooperation Russlands zu. Er zog aber die Kiewer Bereitschaft in Zweifel, eine solche Mission zuzulassen. Der Botschafter lehnte bislang auch die Forderung nach einer Entmilitarisierung des Kraftwerks ab, die auch UN-Generalsekretär António Guterres erhoben hat. "Ich persönlich bin bereit, eine solche Mission zu leiten", sagte IAEA-Chef Grossi diese Woche.

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Frage: Warum ist die Lage des AKWs von strategischer Bedeutung in diesem Krieg?

Antwort: Wie fast jedes Atomkraftwerk der Welt liegt auch das AKW Saporischschja an einem Gewässer, um ausreichend Kühlflüssigkeit zum Abkühlen der Brennstäbe zu garantieren. Im konkreten Fall liegt das AKW am südlichen Ufer des Flusses Dnjepr. Entlang des Dnjepr, Europas drittlängstem Strom, verläuft im Süden der Ukraine allerdings auch die Frontlinie. Die Russen halten die Südseite besetzt, während die ukrainischen Truppen die Nordseite des Flusses bislang halten konnten. Die Ukrainer werfen deshalb den Russen vor, dass sie quasi aus dem Schatten des AKWs heraus die ukrainische Frontlinie nördlich des Dnjepr beschießen, während die Ukraine nur schwer darauf antworten kann, weil ein Artilleriebeschuss des AKWs eben schwerwiegende Folgen für die ganze Region haben könnte. Das AKW dient quasi wie ein Schutzschild, weshalb der ukrainische Präsident zuletzt auch von "nuklearem Terror" bzw. "nuklearer Erpressung" durch die Russen sprach. Niemand sonst habe ein Atomkraftwerk so offensichtlich benutzt, "um die ganze Welt zu bedrohen und Bedingungen zu stellen", sagte Selenskyj. Kleinere Artilleriegeschoße wären aber wohl nicht in der Lage, den Sicherheitsmantel des AKWs zu zerstören. Die Sorge dreht sich eher um fehlgeleitete Raketen.

Alle Strahlungswerte im Rahmen, sagen die Experten.
Foto: IMAGO/Konstantin Mihalchevskiy

Frage: Ist es ratsam, sich vorsichtshalber mit Jodtabletten zu versorgen bzw. diese präventiv einzunehmen?

Antwort: Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass beiden Seiten die Gefahren bekannt sein sollten, die von einem solchen AKW ausgehen. Vor allem auf russischer Seite existiert großes Know-how im Umgang mit Atomkraftwerken. Die Strahlungssicherheit wäre laut dem österreichischen Nuklearexperten Georg Steinhauser grundsätzlich dann in Gefahr, wenn ein Reaktordruckbehälter, das Zwischenlager oder Abklingbecken Schaden nehmen würden. Auch wenn ein Stromausfall zu einem Ausfall der Kühlung führe, sei das gefährlich. Nichts davon ist jedoch unmittelbar zu erwarten. Zudem gilt das AKW in Saporischschja als deutlich sicherer als etwa jenes in Tschernobyl. Bereits im März sagte Steinhauser dem STANDARD mit Verweis auf die große Distanz: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in Österreich Jodtabletten nehmen muss, wenn in der Ukraine etwas in die Luft fliegt. Selbst in Fukushima ist es nur in Ausnahmefällen zur Einnahme von Jodtabletten gekommen." Am "allerschlimmsten" fände er, würde man jetzt schon Jodtabletten schlucken. "Sie haben beträchtliche Nebenwirkungen." Auch das österreichische Klimaschutzministerium betont, dass Jodtabletten keinesfalls jetzt schon präventiv eingenommen werden sollten, sondern wirklich erst nach behördlicher Aufforderung – ein Szenario, das aus aktueller Sicht als äußerst unwahrscheinlich gilt.

Frage: Jüngst gab es in sozialen Medien auch Meldungen, wonach bei den Explosionen auf dem Luftwaffenstützpunkt auf der Krim radioaktive Strahlung ausgetreten sein könnte. Was ist da dran?

Antwort: Dabei handelt es sich offenbar um ein Video von einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt, nämlich vor vier Jahren. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass die Russen dort Nuklearsprengköpfe stationiert hatten. (Flora Mory, Fabian Sommavilla, 12.8.2022)