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Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass die Neunzigerjahre zurück sind, hat das Frequency-Festival ihn nach zwei Jahren pandemischer Pause erbracht. Es ist nämlich so, dass nicht nur Fischerhüte, Plateauschuhe, Glitzerglitzer und übergroße Batik-T-Shirts ein Comeback feiern sowie die Backstreet Boys, Jennifer Lopez und Ben Affleck alle wieder fix zam sind – man hört das Jahrzehnt von Dr. Alban, Haddaway und Eiffel 65 aktuell auch aus jedem zweiten Smartphone herausplärren. "What is love? Baby don’t hurt me ..."

Am abschließenden Samstag des 150.000-Menschen-Events in St. Pölten war allerdings nicht nur Retroparty, sondern auch neu interpretiertes Altes zu bewundern: In der von der breiten Masse allzu gut abgeschirmten Halle, in der am Vortag bereits die Rockerinnen von Nova Twins zwar wenige Leute, aber diese zu deren äußerster Verzückung bearbeiteten, war diesmal die südafrikanische Neuerfinderin des sogenannten Girlpunk zur Stelle: Baby Queen hat ihre weiten Jeans über und über mit Smiley-Patches und Buttons verziert, die wasserstoffblondierten Haare zu Sailor-Moon-Knödeln verknotet.

BabyQueenVEVO

Gestern, sagt sie, hatte sie Geburtstag, natürlich habe sie durchgefeiert, das Frequency nimmt die Welttourneereisende also restfett mit. Und natürlich hat die Nachfolgerin von Avril Lavigne (die selbst im Übrigen auch zurück ist) mit Raw Thoughts über das Zechen und Abstürzen auch den passenden Song parat. Botschaften hat das quirlige Energiebündel aber auch: Scher dich einen Dreck darum, was andere über dich denken, ist eine davon; es ist okay, wenn du nicht immer die Beste bist, eine andere: "I could be the next First Lady / I could lead the U.S Navy / I can be a hero baby / But I’m too fucking lazy", singt die 25-Jährige im Brustton der Überzeugung. Das war ein guter Anfang.

Später zeigte draußen auf der großen Bühne RIN, dass Deutschrap auch ohne Chauvinismus geht, indem er nicht wie einige Kollegen vor ihm auf dicke Hose machte, sondern bei jeder Gelegenheit vom Publikum freundliche Fingerherzchen einforderte. Mit dem Song Keine Liebe leistete RIN seinen Neunzigerjahrebeitrag, indem er das Lied Du trägst keine Liebe in dir (1999) von Echt verwurstete. Spoiler: Das Original ist dann doch besser.

Rapper RIN kam, sah und war lieb zum Publikum.
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Kollege Yung Hurn, mit dem RIN 2016 den für beiderlei Karrieren grundlegenden Hit Bianco herausbrachte, übernahm das Staffelholz als Schlussakt auf der kleineren Frequency-Bühne. Bei den Wiener Festwochen noch wegen sexistischer Songtexte kritisiert, gab sich der Publikumsliebling wohlerzogen und bedankte sich im Stile eines Donaustädter Bezirksvorstehers artig bei allen Mitarbeitenden des Festivals.

Yung Hurn bedankte sich im Stile eines Bezirksvorstehers bei allen Mitarbeitenden. Natürlich ging es auch um Sex und Drogen.
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Traditionsgemäß hat man natürlich auch wieder Kokain-Ikone Andi Goldberger hochleben lassen, und zwischendrin intonierte Hurn sogar Peter Cornelius‘ Du entschuldige i kenn di. Eurodance-Referenzen durften auch hier nicht fehlen, und als größte Leistung gilt vielleicht, dass Yung Hurn bei strömendem Regen in seinen Badewaschlschlapfen keinen Stern gerissen hat.

Beim Festivalhöhepunkt Bilderbuch muss man sich mittlerweile zurückhalten, um sich nicht in zu vielen Superlativen zu ergehen. So viel sei erlaubt: Es handelt sich heute um eine Liveband von Weltformat. Böse Zungen behaupten, dass die Rolling Stones im Juli in Wien ihren sofortigen Rücktritt erklärt hätten, wenn man der von ihnen selbst ausgesuchten Vorband Bilderbuch nicht vorsorglich die Lautstärke runtergedreht hätte.

Der neue Bilderbuch-Look erinnert wahlweise an den Jugendstil, christliche Gewänder oder Neunzigerjahre-Grunge.
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Die Combo um Sänger Maurice Ernst kam wie zuletzt bei den Wiener Festwochen in Kleidern auf die Bühne, wie man sie wahlweise von Gustav Klimt oder von – ja, auch hier ist Retro angesagt – Neunzigerjahre-Grunge-Bands wie Nirvana kennt. Dazu trägt man seit der Corona-Pause langes, schön fettiges Haupthaar, als wäre man dem Nazarenerbund beigetreten. In Wahrheit haben Bilderbuch mit ihrem jüngsten Album Gelb ist das Feld dem Blingbling-Funk, der sie seit Schick Schock (2015) auszeichnet, eine gehörige Portion Romantik, Introvertiertheit und psychedelische Verspieltheit hinzugefügt. Das macht sie auch dank des unfassbar guten Gitarrenspiels von Michael Krammer zu einer viel variableren Band als früher.

Gitarrist Michael Krammer hat sein virtuoses Spiel über die Jahre immer weiter verfeinert.
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Schwarzes Karma, Zwischen deiner und meiner Welt, Baba, Nahuel Huapi, Bungalow, Maschin, Spliff, Schick Schock oder Willkommen im Dschungel – die Liste an herausragenden Songs ist mittlerweile lang. Inszenatorisch kann man es sich nunmehr leisten, schon mittendrin im Konzert Feuerwerksraketen in den Himmel zu schießen oder Konfetti regnen zu lassen. Und ja: Die schönen Kleider wurden natürlich auch ausgezogen – als Prince- und Freddie-Mercury-Reminiszenz grüßen beim Thema nackter Oberkörper aber mehr die Achtziger als die Neunziger. Damn hot! (Stefan Weiss, 21.8.2022)