Kenan Güngör hat 2007 in Wien ein Beratungs- und Forschungsbüro namens think.difference gegründet und ist als Organisationsberater und internationaler Experte für Integrations- und Diversitätsfragen tätig.

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Die Neos bringen den Fall Güngör ins Parlament: mit zwei parlamentarischen Anfragen rund um – geheime – türkische Haftbefehle gegen den Integrationsexperten Kenan Güngör, ein Mitglied des unabhängigen Expertenrats für Integration der Regierung.

Von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) wollen sie Auskunft über die von Güngör im STANDARD-Interview kritisierte "Spitzel-App", mit der türkische Spione und freiwillige Helfer in Europa kritische Stimmen technisch leicht denunzieren können. Sei ein Verbot dieser vom Erdoğan-Regime entwickelten EMG-App geplant? Was tue die Regierung, "um Österreicher und Österreicherinnen oder hier lebende Menschen vor den Folgen geheimer Haftbefehle zu schützen"? Werde die "Spitzelszene" von den Inlandsdiensten überwacht?

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) wird gefragt, ob "nach Bekanntwerden von geheimen Haftbefehlen gegen in Österreich lebende Personen Schritte gegenüber der türkischen Regierung bzw. Botschaft gesetzt" wurden und ob der türkische Botschafter deswegen einbestellt wurde oder noch wird.

"Regierung muss einen Riegel vorschieben"

Neos-Außenpolitiksprecher Helmut Brandstätter sagt zur Initiative im STANDARD-Gespräch: "Es kann nicht sein, dass Geheimdienste aus dem Ausland in Österreich Menschen ausspionieren, sie einschüchtern oder in ihren Grund- und Freiheitsrechten beschränken wollen." Das dürfe nicht akzeptiert werden. Die Regierung müsse "diesen Vorgängen klar und deutlich einen Riegel vorschieben". Auch türkische Vereine selbst seien da gefordert.

Das Außenministerium teilte auf STANDARD-Anfrage mit, man habe mit dem türkischen Botschafter "einen regelmäßigen Austausch, wobei immer wieder auch offen und sehr deutlich schwierige Themen behandelt werden. Fest steht, dass die Meinungsfreiheit in einer Demokratie ein hohes Gut ist und dass Angriffe auf die Meinungsfreiheit schärfstens zu verurteilen sind." Zum Thema "Spitzeltätigkeit" gebe es seitens der Behörden "ein ausgeprägtes Problembewusstsein".

Zum konkreten Fall seien dem Außenministerium derzeit "die gegen Güngör erhobenen Anschuldigungen nicht im Detail bekannt", aber man verfolge den Fall genau und stehe mit Güngör und den deutschen Botschaften in Wien und Ankara – deren Staatsangehöriger er ja ist – in Kontakt: "Wir werden den Fall in geeigneter Weise auch gegenüber den türkischen Stellen ansprechen."

Wie berichtet, brachten Kenan Güngörs Anwälte in Erfahrung, dass dem kurdischstämmigen Soziologen Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan (so wie rund 160.000 anderen Personen) und außerdem Terrorunterstützung vorgeworfen werden. Die Gründe dafür hält die türkische Justiz unter Verschluss.

Botschafter klagt über "eine Person namens Kenan Doğan Güngör"

Der türkische Botschafter Ozan Ceyhun meldete sich am Freitag zur Causa zu Wort. In einer kurzen schriftlichen Erklärung beklagt er, dass seit einiger Zeit zu beobachten sei, dass "eine Person namens Kenan Doğan Güngör versucht, eine negative Wahrnehmung gegenüber der Türkei zu schaffen". Dabei gebe es "keine gerichtlichen Schritte bezüglich der Festnahme der Person, ihrer Fahndung auf internationaler Ebene oder ihrer Auslieferung an die Türkei". – Was Güngör nie behauptet hat. Ceyhun schreibt weiter: "Aufgrund eines Antrages ist eine Einvernahme der betroffenen Person erforderlich. Die Einvernahme ist ein natürlicher Bestandteil jedes Gerichtsverfahrens."

Apropos Verfahren, das ja in der Türkei der Geheimhaltung unterliegt. Die jüngste Entwicklung in dem Fall ist für Güngörs Anwälte in der Türkei höchst "verwunderlich", erzählte er am Sonntag im STANDARD-Gespräch. Denn bei einer erneuten Nachschau bei der Staatsanwaltschaft, wo die beiden Haftbefehle bisher lagen, zeigte sich, dass das Delikt der Präsidentenbeleidigung plötzlich aus dem Akt verschwunden ist: Warum? "Wir wissen es nicht. Auch das halten sie geheim", sagt Güngör: "So etwas ist jedenfalls unüblich." Möglicherweise liege ein Teil des bisherigen Akts jetzt bei einer anderen Staatsanwaltschaft und sei noch gar nicht zurückgezogen worden. Er habe jedenfalls keine offiziellen Informationen zu seinem Fall.

"Die verschleiernde Sprache von Unrechtsregimen"

Zur Reaktion des türkischen Botschafters, der ihn als "eine Person namens Kenan Doğan Güngör" bezeichnete und von "natürlichen" Bestandteilen eines Gerichtsverfahrens sprach, meint Güngör: "Das ist die typische verschleiernde Sprache. Es ist eine bekannte Form, wie autoritäre Unrechtsregime ihr Unrecht in diplomatischer Amtssprache verhüllen."

Konfrontiert mit Güngörs Kritik an der recht regen Kontaktpflege österreichischer Spitzenpolitiker mit Erdoğan, von Kanzler Karl Nehammer über Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (beide ÖVP) bis hin zum Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), denen Güngör unnötige "Lobhudelei" und ein "Hofieren" eines autoritären Machthabers vorwirft, verwies das Kanzlerbüro auf STANDARD-Anfrage an das Außenministerium. Dort sagte man zu diesen Reisen: "Einen offenen, konstruktiven und durchaus auch kritischen Dialog zu führen, ist Kernstück einer interessen- und werteorientierten Außenpolitik. Eine Gesprächsverweigerung wäre wohl nicht der richtige Weg und auch nicht im Interesse Österreichs." Als bedeutendes Nachbarland der EU spiele die Türkei "realpolitisch in vielen Bereichen, beispielsweise in Migrationsfragen oder zuletzt durch Vermittlungsbemühungen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, eine wichtige Rolle. Es wäre verfehlt, das zu ignorieren."

Außenministerium setzt auf Dialog und betont Differenzen

Allerdings, so wird in der Stellungnahme aus dem Außenamt auch betont, gebe es in der Türkei Entwicklungen, "die wir mit Sorge verfolgen, und es gibt Fragen, zu denen wir mit der Türkei ganz und gar nicht übereinstimmen. Das ist beiden Seiten bewusst. Direkte Gespräche und Besuchsaustausch dienen deshalb auch dazu, diese Probleme und Meinungsunterschiede in offener, respektvoller Weise zu besprechen."

Im Büro des Wiener Bürgermeisters wurde lediglich mit Nachdruck darauf verwiesen, dass Ludwig Anfang Juni in seiner Funktion als Vorsitzender des Städtebunds unter anderem mit Erdoğan zusammengetroffen sei. Ludwig würdigte damals auf Twitter die Rolle der Türkei im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg: "Die türkischen Bemühungen für Frieden in der Ukraine sind wichtig." Darüber habe er sich mit dem türkischen Präsidenten ausgetauscht. Außerdem wolle er mithelfen, "die staatlichen Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei wieder zu verbessern. Selbstverständlich wurden auch die Kopenhagener Kriterien angesprochen. "

Das sind jene Kriterien, die Beitrittskandidaten erfüllen müssen, wenn sie ein EU-Vollmitglied werden möchten – zum Beispiel die Wahrung der Menschenrechte, eine demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten.

Wiederkehr pocht auf "Menschenrecht Meinungsäußerung"

Anders als Ludwig reagierte sein Koalitionspartner, Vizebürgermeister und Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos), sehr wohl auf Güngörs Verfolgung durch die türkischen Behörden. Immerhin war der Integrationsexperte einmal Vorsitzender des Expertenforums Prävention, Deradikalisierung & Demokratiekultur der Stadt und ist Mitglied des aktuellen Wiener Integrationsrats. "Ich finde es erschreckend, wie der türkische Präsident Erdoğan seine Regimegegnerinnen und Regimegegner auch noch im Ausland verfolgt", sagte Wiederkehr und betonte: "Das Recht auf Meinungsäußerung ist ein Menschenrecht und ein wichtiges Gut in Europa und Österreich, welches die Türkei einmal mehr mit Füßen tritt. Ein solches Vorgehen ist zutiefst zu verurteilen!"

Der Wiener Integrationsrat solidarisierte sich in einer Stellungnahme mit Güngörs Kritik an der "hofierenden" Besuchspraxis hochrangiger österreichischer Politiker und schloss sich der Forderung an, "dass die anhaltende politische Repression in der Türkei nicht verharmlost oder unter den Teppich gekehrt werden darf".

Wiener Integrationsrat kritisiert Verfolgung und willkürliche Prozesse

Das Gremium protestiert "aufs Schärfste gegen politische Verfolgung und den systematischen Missbrauch des Justizsystems in der Türkei. Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung sollen die politischen Gegnerinnen und Gegner Erdoğans durch willkürliche Prozesse und Haftstrafen zum Schweigen gebracht oder aus dem Land vertrieben werden."

Man appelliere an den Wiener Bürgermeister und den Bundeskanzler, "sich bei allen zukünftigen Treffen mit türkischen Regierungsvertretern für den Schutz der Menschenrechte und die Wiederherstellung von Rechtsstaat und Demokratie in der Türkei einzusetzen und dies auch öffentlich zu bekunden." (Lisa Nimmervoll, 22.8.2022)