Foto: sms.at

Wenn sich die Website vor mir aufbaut, bin ich schlagartig wieder 16. Nein, nicht nur irgendein Teenager mit einer ungesunden Vorliebe für Pizza und Videospiele, sondern ein 16-jähriger Schüler, der gerade vom Gymnasium an eine Handelsakademie im tiefsten Waldviertel gewechselt ist und in einem stickigen Raum mit seinen gleichaltrigen Mitschülern sitzt. Die längst defekten Kugellager der Lüfter im Computerraum machen einen unglaublichen Lärm, und der Teppichboden verströmt das Odeur von den unzähligen Softdrinks, die er über die Jahrzehnte aufsaugen musste. Nun gibt der Teppich einen säuerlichen Geruch ab, als wollte er sich für die achtlose Behandlung rächen.

Die Knechtschaft der Wirtschaftsinformatik

Wir sitzen zu zweit vor dem Bildschirm, denn nicht für jeden Schüler stand ein damals üblicher Compaq-PC mit Pentium-90-Prozessor bereit. "Wirtschaftsinformatik" nennt sich dieses Fach. Der Mann mit dem Schnauzbart, nennen wir ihn einfach Herr A. (Name ist der Redaktion bekannt), erzählt gerade irgendetwas über eine Wenn-dann-Funktion in Excel 97, sein Lieblingsthema und unser aller Albtraum. Wie würden wir bloß die Doppelstunde überleben?

Ich besaß damals mein erstes Handy. Ein Modell von Bosch in Giftgrün mit semitransparentem Gehäuse – das war selbst nach damaligen Standards schon ziemlich uncool. Die Sprösslinge der spendableren Eltern hatten das Nokia 8110, das gerade durch den Film "Matrix" populär wurde. Mit Handy und einer Website namens sms.at hatten wir endlich eine wirksame Waffe, um der Knechtschaft der Wirtschaftsinformatik zu entkommen.

Die Website sieht heute noch fast so aus wie vor über 20 Jahren.
Foto: Screenshot sms.at

Von "David stinkt" bis "Manuela ist süß"

Damals konnte man auf der Seite noch Gratis-SMS verschicken, so viel man wollte. Lediglich einen kurzen Cooldown musste man abwarten, bevor man sich mit den Klassenkollegen über den Schnauzbart von Herrn A. lustig machen konnte. Die SMS direkt vom Handy aus zu verschicken kam nicht infrage: Unsere Pre-Paid-Guthaben wären binnen einer Doppelstunde aufgebraucht gewesen, und bei den meisten reichte das monatliche Taschengeld vielleicht für eine oder maximal zwei der damals üblichen Rubbelkarten mit dem Guthabencode aus der Trafik. Kein Wunder, kostete eine einzige Nachricht damals doch bis zu 40 Cent. Also musste sms.at her. Seite öffnen, Nummer eintippen, 160 Zeichen lang mehr oder weniger sinnvolles wie "David stinkt" oder "Manuela ist ja so süß" eintippen und abschicken.

Natürlich brauchten wir dafür einen Computerraum, denn Websites auf einem Mobilgerät aufzurufen war damals noch undenkbar. So musste sie sich also anfühlen, die große digitale Freiheit, von der immer alle redeten.

Sms.at: Das Proto-Facebook

Sms.at wurde 1999 von einem jungen Brüderpaar namens Jürgen und Martin Pansy aus Graz gegründet. Sie waren damals ihrer Zeit voraus, denn sms.at bestand nach kürzester Zeit nicht mehr nur aus kostenlosen Kurznachrichten. Man konnte sein eigenen Profil (mit Foto!) online stellen und so kommunizieren. Damit wurde sms.at zu so etwas wie dem Proto-Facebook einer ganzen Generation. Ich kann mich sogar noch erinnern, wie ich per sms.at mit einem Mädchen aus meiner Schule flirtete – die ganze Nacht lang. Von zu Hause aus, per 56k-Modem der Telekom. Wer braucht schon Tinder, wenn er sms.at haben kann?

Doch die digitale Gratiskultur währte nur kurz, schon bald wurde die Zahl der SMS limitiert und später ganz kostenpflichtig. Das löste damals eine gewaltige Diskussion aus, so wichtig war sms.at geworden. Sogar DER STANDARD berichtete darüber. 1,3 Millionen Nutzer haben binnen zehn Jahren 1,5 Milliarden Textnachrichten verschickt. Ich bin mir sicher, dass meine Schulkollegen und ich für mindestens ein Drittel davon verantwortlich waren. Zumindest fühlt es sich so an.

Danke, sms.at

Sms.at existiert im Gegensatz zum Nebenbuhler uboot.com noch heute – und die Website hat sich zumindest in meiner Erinnerung kein bisschen verändert. Sie wirkt heute wie ein Wurmloch zurück in die wilden Jahre des Internets – oder eben in einen stickigen Computerraum einer höheren Schule im Waldviertel. Zuletzt machte das Portal im Jahr 2020 von sich reden, als eine norwegische Firma die Sms.at-Mutter Web SMS gekauft hat – um 50,9 Millionen Euro.

Mein Nutzername wollte mir im Zuge der Arbeit an dieser kleinen Ode an die geilste Website meiner Jugend nicht mehr einfallen. Zu gerne hätte ich einer zufällig ausgewählten Person eine SMS geschickt. Aber leider sind sämtliche Wiederherstellungsversuche gescheitert. Egal, die Erinnerung lebt weiter. Die Erinnerung an Matrix-Handys, dunkle Ledermäntel, den schnauzbärtigen Herrn und natürlich meine erste Liebe. Danke, sms.at. (Peter Zellinger, 23.8.2022)