Der 36-jährige James Waterhouse berichtet seit Jänner als Korrespondent für die BBC aus Kiew.

Foto: BBC

James Waterhouse sitzt auf einem Balkon in der Sonne, hinter ihm das Schwarze Meer. Vor wenigen Tagen ist der Ukraine-Korrespondent der BBC aus Kiew angekommen. Mit seinem Kamerateam wollte er das erste Getreideschiff filmen, das die Ukraine nach Monaten verlassen durfte. Im Interview mit dem STANDARD erzählt der ehemalige Profi-Rugby-Spieler von den Herausforderungen für Journalismus in Kriegszeiten.

STANDARD: Wie berichtet man von einem Krieg, in dem beide Seiten ihre Geschichte erzählen wollen?

Waterhouse: Es ist ein ständiger Prozess. Es passiert viel, bevor ich bei einer Live-Übertragung meinen Mund aufmache oder wir einen Film zusammenstellen. Beide Seiten verzerren Informationen, um sich gegenseitig zu verwirren. Deshalb versuchen wir, grundlegenden Prinzipien zu befolgen, um Genauigkeit und Unparteilichkeit zu wahren. Eines der düstersten Kapitel ist die Zahl der Todesopfer dieses Krieges. Es ist sehr schwierig, eine genaue Zahl zu bekommen. Wir neigen also dazu, das nicht zu oft zu erwähnen. Aber wenn es eine Behauptung von einer Seite gibt, sagen wir, wer diese Behauptung aufstellt, wir schreiben sie einer Seite zu. Das kombinieren wir mit Satellitenbildern, Medienberichten, Social-Media-Posts, Reportagen von vor Ort befindlichen BBC-Teams. Wir haben Kollegen in London, die das Filmmaterial überprüfen. Wir versuchen nicht, das Publikum zu täuschen. Wir sagen, was wir wissen und was unklar ist. Es wird einfacher, wenn man weitermacht. Man bekommt ein Gefühl für diesen Konflikt. Auch wenn er unberechenbar ist, unsere Aufgabe ist es, diesen Weg zu zeichnen, auch wenn wir das Ziel nicht kennen.

"Am schädlichsten ist es, wenn man Ungenauigkeiten macht."

STANDARD: Denken Sie, dass das Publikum Ihnen mehr vertraut, wenn man offen sagt, was man weiß oder nicht weiß?

Waterhouse: Am schädlichsten ist es, wenn man Ungenauigkeiten macht. Das habe ich am ersten Tag meiner Arbeit im lokalen BBC-Radio gelernt, wo ich den Namen eines Gemeinderats falsch geschrieben habe. Das war kein großer Fehler, ich habe nur den Nachnamen falsch verstanden. Aber meine Chefin meinte, es ist egal, was du von diesem Zeitpunkt an sagst, denn das Publikum weiß, dass du diesen Namen falsch verstanden hast und das untergräbt Vertrauen. Gerade in Kriegszeiten, wenn Fehlinformationen weitverbreitet und schnell Neues passiert, war es noch nie so wichtig, dass dir die Leute auch vertrauen. Das habe ich immer im Hinterkopf.

James Waterhouse bei der Arbeit.
Foto: BBC

STANDARD: Warum haben Sie Ihre Rugby-Karriere beendet und sind in den Journalismus gegangen?

Waterhouse: Es war ein Moment der Ehrlichkeit. Ich habe fünf Jahre lang in der englischen Meisterschaft gespielt, in der zweiten Liga. Ich habe mehr aus Spaß gespielt und nicht die Opfer gebracht, die man wahrscheinlich bringen sollte, wenn man an der Spitze spielen möchte. Dann wurde ich 25 und stellte fest, dass ich mich fühlte wie in einer Blase. Ich fühlte mich ziemlich eingeengt und wollte mehr. Dann schlug der Vorsitzende meines Clubs vor, dass ich aufs College gehe und Rundfunkjournalismus studiere. Das hat einfach von Anfang an gepasst: Jeden Tag keine Ahnung zu haben, was ich tun werde – ich mag diese Unberechenbarkeit. Man kann so viele verschiedene Menschen treffen und muss sich auf ein Team verlassen. Und bei welchem anderen Job könnte ich mich mit Ihnen unterhalten, von einem wichtigen Hafen im Süden der Ukraine aus, in einem Land, das sich immer noch in einer vollen Invasion befindet?

"Ich lasse mich gerne so hineinwerfen. Scheinbar reagiere ich gut auf diese Art von Herausforderung."

STANDARD: Ihre Karriere haben Sie dann bei der BBC begonnen?

Waterhouse: Vor zehn Jahren habe ich im lokalen Radio für BBC Essex angefangen, das liegt nordöstlich von London. Es war einfach ein brillantes Nachrichtenpaket, und es war so viel los: von Streitereien unter Gemeinderäten bis zu einigen der schlimmsten Mordprozesse, auf die man stoßen konnte. Es war eine echte Feuertaufe, so ins kalte Wasser geworfen zu werden. Ich denke, das passt irgendwie zu mir, ich lasse mich gerne so hineinwerfen. Scheinbar reagiere ich gut auf diese Art von Herausforderung.

STANDARD: Wie wurden Sie Korrespondent in der Ukraine?

Waterhouse: Ich habe zehn Jahre gebraucht, um Korrespondent in der Ukraine zu werden. Mein Weg führte mich zu BBC Radio One, wo ich die Nachrichten für ein jüngeres Publikum machte, also für Teenager und Leute in ihren Zwanzigern. Dort wurde mir beigebracht, wie wichtig es ist, eine zugängliche Sprache zu verwenden und Geschichten unverwechselbar zu erzählen. Einmal haben wir eine Kabinettsumbildung in 10 Downing Street wie einen Fußballtransfer behandelt und einen Sportkommentator benutzt, um über das Kommen und Gehen zu berichten. Solche Wagnisse haben mir wirklich Spaß gemacht. Es geht darum, normale Menschen in den Mittelpunkt deines Geschichtenerzählens zu stellen. Dann ging ich weiter zur BBC London, wo mir das Fernsehhandwerk beigebracht wurde. Ich mochte lokales Fernsehen, weil man jeden Tag so ziemlich mit nichts beginnt. Du gehst nach draußen und kannst kein Agenturmaterial verwenden, das wäre nicht relevant. Du machst dich auf den Weg und machst aus dem Nichts etwas. Letztes Jahr hat die BBC dann den Job als Ukraine-Korrespondenten ausgeschrieben, und ich wurde genommen. Also bin ich am 17. Jänner los in ein verschneites und eisiges Kiew.

"Am 24. Februar änderte sich alles."

STANDARD: Ihr Arbeitsumfeld änderte sich dann schnell.

Waterhouse: Ich denke, das ist milde ausgedrückt. Als ich angekommen bin, ist mir zuerst aufgefallen, dass es wie eine sich aufbauende Krise gewirkt hat. Wladimir Putin versammelte Zehntausende von Soldaten und führte immer bedrohlichere Militärübungen durch, und der Westen drängte ihn gleichzeitig zu deeskalieren. Ich wusste, es gibt einen Krieg im Osten, aber das ist 400 Meilen entfernt. Es ist ein riesiges Land, von der Hauptstadt aus habe ich das nicht gesehen oder gefühlt, aber die aggressive politische Sprache war da. Die Ukrainer waren einfach schon daran gewöhnt, und es war ihnen fast gleichgültig. Zehn Minuten vor 5 Uhr morgens am 24. Februar änderte sich alles. Ich wurde von einem brandneuen Korrespondenten in meinem ersten Auslandseinsatz zu jemandem, der an vorderster Front steht. Ich erinnere mich noch so gut an diese Ansprache von Wladimir Putin, wo er fast wie ein "Bond"-Bösewicht direkt in die Kamera schaut und sagt: "Wir beginnen mit dieser besonderen Militäroperation. Jeder Versuch, sich einzumischen, wird auf die härteste Reaktion stoßen." Die Geschwindigkeit der Ereignisse war so schnell, dass es unmöglich war, bei allem dranzubleiben. Das war wohl die prägendste Wandlung, die ich jemals in meinem Leben durchgemacht haben werde.

STANDARD: Sie haben auch einen Abschluss in Psychologie. Denken Sie, dass Ihnen das in gewisser Weise bei Ihrer Berichterstattung hilft?

Waterhouse: (lacht) Nein, tut es nicht. Ich habe zur Bestürzung meiner Eltern gerade so den Abschluss in Psychologie geschafft. Akademisch hatte ich ziemlich viel zu kämpfen, ich habe mich dort nie wirklich zu Hause gefühlt, ich fühlte mich überfordert. Psychologie ist ein schwieriges Thema. Ich erinnere mich, dass ich in einem Hörsaal mit einem Professor vor einem großen Diagramm eines Gehirns saß, der die Medulla erklärte. Ich hatte keine Ahnung, was los ist. Es passte nicht zu mir, mit 100 anderen Studierenden in einem Hörsaal zu sitzen. Ich konnte es einfach nicht aufnehmen und hatte wirklich Probleme. Worauf ich mich heute mehr als alles andere verlasse, ist meine Zeit im Sport. Dieser Job befiehlt dir, ein bisschen wie ein Schwamm zu sein, der alles absorbiert. Und das nährt mich und treibt mich an. Ich bin sehr daran interessiert, diesen herausfordernden Auftrag anzunehmen. Ich denke, du musst neugierig sein, und du musst zumindest mitfühlend sein. Daran versuche ich mich festzuhalten, aber Psychologie ging leider an mir vorüber.

"Gibt es Momente, in denen es wirklich stressig ist und man sich gegenseitig satthat? Absolut."

STANDARD: Also würden Sie sagen, der Sport hat Ihnen etwas gegeben, dass Sie jetzt nutzen können?

Waterhouse: Das ist so ein Klischee, nicht wahr? Ich habe es geliebt zu spielen, aber ich liebe es noch mehr, mich in einem unglaublich herausfordernden Umfeld auf Teamkollegen verlassen zu können. Sie können also die Parallelen erkennen. Das Vertrauen in meine Teammitglieder ist eines meiner Lieblingsmerkmale in diesem Job. Ich habe großes Glück, mit einigen sehr brillanten lokalen Produzenten zusammenzuarbeiten. Wie Anna Chornous, die von Anfang an ab Jänner bei mir war und Professionalität bewahrt hat, während ihr Land überfallen wurde und ihr Leben auf den Kopf gestellt wurde. Ich leite das Team nicht per se, es ist immer eine Art von echter demokratischer Stimmung. Gibt es Momente, in denen es wirklich stressig ist und man sich gegenseitig satthat? Absolut. Aber es geht darum, das zu erkennen, und ich würde es gegen nichts eintauschen.

"Wir müssen sicherstellen, dass wir unseren Teil der Vereinbarung einhalten, um dieses Vertrauen aufrechtzuerhalten."

STANDARD: Haben Sie eine besondere Verantwortung als Journalist für einen öffentlich-rechtlichen Sender wie die BBC?

Waterhouse: Es ist mit viel verbunden. Ich bin mir bewusst, was die BBC mir gibt. Es gibt Teile der Welt, in denen die BBC weniger willkommen ist, aber wenn wir die Ukraine als Beispiel nehmen: Für die Behörden, das Militär und die Regierung hier ist es unglaublich wichtig, dass die Geschichte ihres angegriffenen Landes genau erzählt wird. Die BBC verkörpert vertrauenswürdiges Geschichtenerzählen. Wir erreichen jede Woche fast 500 Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Diese Zuschauer sind aus einem bestimmten Grund dabei, und das ist es, was mich antreibt. Es macht keinen Sinn, so hart zu arbeiten, ohne zu wissen, dass wir so viele verschiedene Menschen wie möglich erreichen werden. Es ist keine Einbahnstraße: Wir müssen sicherstellen, dass wir unseren Teil der Vereinbarung einhalten, um dieses Vertrauen aufrechtzuerhalten. Aber es ist ein Privileg. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich einen der besten Jobs im Journalismus habe.

STANDARD: Wie lange werden Sie in der Ukraine bleiben?

Waterhouse: Nun, ich bin für ein paar Jahre hier, und wer weiß, was danach passiert? Ein Teil davon liegt bei den Chefs. Aber ich habe dieses Land lieben gelernt. Ich fühle mich, als hätte ich eine Verantwortung dafür. Was wir hier getan haben, ist wirklich zu den Leuten durchgedrungen. Ich glaube, es hat der Welt geholfen, ein Gefühl dafür zu bekommen, was in diesem Konflikt passiert. Unser Job ist es auch, gegen nachlassendes Interesse zu kämpfen. Wir wissen, dass unser Publikum nach ungehörten Stimmen sucht, nach prorussischen Ansichten oder Vorhersagen, wohin dieser Konflikt führen könnte. Der Job hat sich verändert, wir haben einen viel stärkeren Fokus auf Social Media. Die Arbeit ändert sich ständig, weil sich die Zielgruppen ändern. Und ich möchte ein Teil davon sein, das hält mich auf Trab. Ich möchte so lange hier sein, wie es dauert, die Geschichte dieses Krieges innerhalb der Ukraine zu erzählen. (Astrid Wenz, 26.8.2022)