Muktada al-Sadr kündigt seinen "endgültigen Ruhestand" an.

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Sie drangen ins Innere des Regierungspalasts vor.

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Unterstützer von al-Sadr gingen auf die Straßen von Bagdad.

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Bagdad – Nach dem angekündigten Rückzug des mächtigen irakischen Schiitenführers Muktada al-Sadr aus der Politik ist es in Bagdad zu Ausschreitungen gekommen. Polizei und Sanitäter berichteten am Montag zunächst von zwei Toten und 19 Verletzten. Diese Zahl wurde im Laufe des Abends nach oben korrigiert – mindestens zwölf Sadr-Anhänger sollen getötet und 270 weitere verletzt worden sein. Augenzeugen zufolge lieferten sich Sadr-Unterstützer und Anhänger einer rivalisierenden schiitischen Gruppe Feuergefechte. Die Armee setzte Tränengas ein.

Reporter der Nachrichtenagentur Reuters sprachen von dutzenden Anhängern und Gegnern des Geistlichen, die sich außerhalb des Regierungsviertels Straßenschlachten lieferten. Zuvor hatten al-Sadrs Anhänger ein Regierungsgebäude gestürmt.

Al-Sadr hatte seinen vollständigen und diesmal endgültigen Rückzug aus der Politik angekündigt und dies mit dem politischen Stillstand in dem Golfstaat begründet. "Ich hatte beschlossen, mich nicht in politische Angelegenheiten einzumischen, aber jetzt kündige ich meinen endgültigen Ruhestand und die Schließung aller Einrichtungen an", twitterte al-Sadr am Montag. Ausgenommen seien mit ihm direkt verbundene religiöse Einrichtungen. "Wenn ich sterbe oder getötet werde, bitte ich um eure Gebete."

"Eine Revolution des Volks"

Keine zwei Stunden nach der Ankündigung strömten Demonstranten in die Grüne Zone. Einige trugen Fotos al-Sadrs. "Dies ist eine Revolution des Volks, keine Sadristen-Bewegung", riefen einige. Andere forderten den "Sturz des Regimes". Die Protestler beseitigten Barrieren, während Sicherheitskräfte versuchten, die Menge mit Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Videos zeigten bald darauf eine jubelnde Menge in den Räumen des Regierungspalasts.

Nach der Erstürmung des Regierungsgebäudes setzte Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi alle Kabinettssitzungen aus, meldete die staatliche Nachrichtenagentur INA. Ab 15.30 Uhr Ortszeit (18.30 Uhr MESZ) gelte in der Hauptstadt eine absolute Ausgangssperre. Die Armee kündigte später eine landesweite Sperre ab 19 Uhr an. Al-Sadr hatte auf Twitter angekündigt, seine politischen Büros zu schließen. Einige seiner religiösen und kulturellen Einrichtungen würden jedoch geöffnet bleiben. Den mit ihm rivalisierenden, führenden schiitischen Politikern warf er vor, seine Aufrufe zu Reformen ignoriert zu haben.

"Extrem gefährliche Eskalation"

Die UN-Mission im Irak (UNAMI) sprach von einer "extrem gefährlichen Eskalation" und forderte die Demonstranten auf, das Regierungsviertel sofort zu verlassen. "Das Überleben des Staates steht auf dem Spiel", erklärte die UN-Mission. Die US-Regierung sprach von "beunruhigenden" Berichten aus Bagdad und mahnte alle Seiten zur Ruhe und zum Dialog.

Die Proteste weiteten sich am Abend auf weitere Landesteile aus. Laut Berichten von AFP-Reportern und Augenzeugen stürmten Sadr-Anhänger Regierungsgebäude in den südlichen Städten Nassiriya und Hilla, in Hilla gab es Straßenblockaden.

Politische Krise

Damit spitzt sich die politische Krise im Irak weiter zu, nachdem Demonstranten vor einem Monat bereits in das Parlamentsgebäude eingedrungen waren. Auch rund zehn Monate nach der Parlamentswahl können sich die Parteien weder auf einen Präsidenten noch einen Regierungschef einigen, während das Land unter einer Wirtschaftskrise, Inflation und Korruption ächzt.

Al-Sadr hat damit vorerst seinen Versuch aufgegeben, das politische System im Irak mit Hilfe des Parlaments zu reformieren. Die USA hatten nach dem Sturz von Langzeitdiktator Saddam Hussein ein Proporzsystem eingeführt, wonach der Präsident immer ein Kurde, der Ministerpräsident ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit ist. Außerdem wollte al-Sadr den Einfluss schiitischer Parteien zurückdrängen, die vom Iran unterstützt werden.

Mit "Druck von der Straße" und einer Stürmung des Parlaments wollte die Al-Sadr-Bewegung schließlich verhindern, dass ihre politischen Gegner um Ex-Regierungschef Nuri al-Maliki, die eine große Nähe zum Iran haben, eine Regierung bilden können. Zuletzt hatte der 48 Jahre alte Religionsführer Neuwahlen gefordert. Seine Rivalen stellten unterdessen einen eigenen Kandidaten als Premier vor, den al-Sadr wegen dessen Nähe zu al-Maliki ablehnt.

Muktada al-Sadr entstammt einer Familie bedeutender Kleriker. Nach dem Einmarsch der US-Armee im Irak 2003 gründete er eine Miliz, die "Mahdi-Armee". Al-Sadr lebte zwischenzeitlich im Iran. (APA, 29.8.2022)