Christian Feest ist einer der führenden europäischen Experten für Fragen der indigenen Völker Nordamerikas. Der österreichische Ethnologe war fast 30 Jahre lang Kurator für die nordamerikanische Sammlung im heutigen Weltmuseum (früher: Völkerkundemuseum), das er von 2004 bis 2010 leitete. Vor der Leitung des Museums war er über zehn Jahre lang Professor für historische Ethnologie Nordamerikas an der Universität Frankfurt am Main. Feest, der auch Mitglied der Karl-May-Gesellschaft war, kuratierte weit mehr als ein Dutzend Ausstellungen über Indigene in den Amerikas.

STANDARD: Was halten Sie von der Aufregung um den "jungen Winnetou" und den Ravensburger-Verlag, der sich nach Kritik an angeblich rassistischen Darstellungen dazu entschied, Begleitbücher nicht zu veröffentlichen?

Feest: Ich halte das für eine Geschichte voll von Irrungen und Verwirrungen, in der legitime mit illegitimen Ansprüchen verknüpft sind. Die Sache ist also ziemlich kompliziert.

Christian Feest vor einem Teller mit Tamales, einer mittelamerikanischen Spezialität. Er hält Kritik insbesondere an negativen Stereotypen für "legitim und wichtig". Das Kuriose sei aber, "dass es hier im Kern um ein positives Stereotyp geht, das die Indianer als gut darstellt".
Foto: privat

STANDARD: Versuchen wir doch eine Entwirrung. Wissen Sie, von wem überhaupt die Kritik kam, die Ravensburger letztlich zum Rückzieher veranlasste?

Feest: Das ist eine Aktivistengruppe von Indianern in Kaiserslautern, die als Angehörige der US-Army nach Deutschland kamen und sich hier für die Interessen indigener Völker und Indianer einsetzt. Das sind nette Leute, die ich noch von meiner Zeit in Frankfurt kenne. Diese Gruppe beschwerte sich darüber, dass mit diesen Begleitbüchern stereotype Darstellungen über Indianer verbreitet würden. Kritik insbesondere an negativen Stereotypen ist legitim und wichtig. Das Kuriose ist aber, dass es hier im Kern um ein positives Stereotyp geht, das die Indianer als gut darstellt.

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass diese Gruppe sich dennoch darüber beschwerte?

Feest: Ich sehe da gewisse Parallelen zur MeToo-Debatte. Am Anfang dieser Bewegung sprachen Betroffene in aller Öffentlichkeit mutig das Unrecht an, das ihnen angetan wurde, was zu wichtigen Diskussionsprozessen führte. Aber es gab bald auch Leute, die sich – me too! – ebenfalls als Opfer sahen, sich jedoch in erster Linie wichtig machten. Den Indianern ist in Nordamerika fraglos viel historisches Unrecht angetan worden, man denke nur an die Funde von Kinderleichen in Kanada. Aber dieses Unrecht passierte eben nicht in Deutschland, eher im Gegenteil. Hier gibt es durchaus so etwas wie eine Indianerbegeisterung: Viele Leute verkleiden sich in ihrer Freizeit als Indianer und wollen wie Indianer leben.

STANDARD: Wie legitimiert ist diese Gruppe überhaupt, für indianische Gruppen zu sprechen?

Feest: Das ist das andere Problem an der Sache. Mich erinnert das ein wenig an eine Geschichte aus den 1980er-Jahren, die sich im Museum von Fribourg in der Schweiz zutrug. Dort gibt es eine kleine, gut dokumentierte Sammlung von Artefakten der Menominee. Anlässlich einer Konferenz über indigene Völker besuchten Indianer das Museum, und ein Lakota erkannte dabei "seine heilige Pfeife". Daraufhin händigte ihm das Museum die Pfeife sofort und mit dem Ausdruck des Bedauerns aus, obwohl er kein Nachfahre der Menominee war und daher auch keinen Anspruch darauf gehabt hätte. Ich halte die Reaktion von Ravensburger für ähnlich falsch und letztlich absurd.

STANDARD: Wir haben bis jetzt vor allem den Begriff "Indianer" verwendet, um über Indigene in Nordamerika zu sprechen. Ist diese Bezeichnung nicht selbst auch problematisch?

Feest: Der Begriff war natürlich von Beginn an ein Irrtum, weil Kolumbus bekanntlich nicht in Indien landete, sondern in Amerika. Zugleich repräsentiert die Bezeichnung eine europäische Sicht auf eine unglaubliche Vielfalt von Bevölkerungen und Sprachen, die in dieser für Europa "Neuen Welt" angetroffen wurde. Diese ganze Vielfalt wird mit der Bezeichnung Indianer über einen Kamm geschert, und dieser Sammelbegriff wurde dann auch zur Grundlage von Stereotypen, also Eigenschaften, die man all diesen Gruppen zusprach. Insofern spreche ich lieber von den indigenen Völker Nordamerikas. Zugleich hat diese imaginäre kollektive Gruppe, die mit dem Begriff Indianer bezeichnet wird, selbst eine gewisse Wirklichkeit bekommen.

STANDARD: Inwiefern?

Feest: Durch Jahrhunderte des Kolonialismus und des Postkolonialismus entstand so etwas wie eine "Schicksalsgemeinschaft": Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Sprache, unterschiedlicher Kulturen, die sich zum Teil sogar bekriegten, wurden durch ein gemeinsames Schicksal vereint. Entsprechend gibt es in den USA und Kanada Gesetze, die in diesen beiden Ländern für all diese Gruppen gemeinsam geschaffen wurden. Wobei in den Gesetzen der USA bezeichnenderweise immer noch von "Indians" die Rede ist.

STANDARD: Die politische korrektere Bezeichnung in den USA wäre aber "Native Americans"?

Feest: Ja – während man in Kanada lieber den Begriff "First Nations" verwendet, obwohl es um die gleichen Gruppen diesseits und jenseits der Grenze geht. Daran sieht man, wie sehr der Nationalstaat in die Bezeichnungsfrage hineinspielt. Zusätzlich sind auch die Lakota, Hopi oder Irokesen selbst pluralistischer geworden. In diesen Gruppen sind alle möglichen Meinungen darüber vertreten, wie sie sich selbst bezeichnen wollen. Diese Problematik der Repräsentation gilt im Übrigen auch für die Sammelbezeichnung der indigenen Völker in der nördlichen Polarzone: Der vermeintlich politisch korrektere Begriff der Inuit umfasst nur die östlichen Eskimo, nicht aber die westlichen etwa in Alaska – und ist also selbst problematisch.

STANDARD: Kommen wir zum Anlassfall zurück, der ja letztlich auf Karl May zurückgeht. War der eigentlich je ein Thema bei den Indigenen in Nordamerika?

Feest: Nicht wirklich. Karl May ist in diesen Gruppen kaum gelesen worden – so wie insgesamt in Nordamerika, auch wenn es englische Übersetzungen in geringen Auflagen gibt. Karl May hatte dort niemals den Markt wie in Deutschland und anderen Ländern Europas. Es gibt aber auch in den USA ähnliche Beispiele wie Karl May, die zeigen, wie sich die historische Bewertung von Literatur aus Betroffenenperspektive verändert hat.

STANDARD: An wen denken Sie da?

Feest: Charles Eastman wäre ein solches Beispiel, ein Zeitgenosse Karl Mays. Eastman war ein Dakota und ein erfolgreicher Autor von Indianerbüchern, die ein positives Bild der Dakota zeichneten und ethnografisch um vieles richtiger waren als die Bücher von Karl May. Dennoch wird er heute bei intellektuellen Indigenen vielfach angefeindet, weil Eastman anpassungswillig und politisch nicht radikal genug war. Solche Umdeutungen und Neubewertungen gibt es aber auch bei uns: Auch wir betrachten die Vergangenheit mit heutigen Wertvorstellungen, die aus unserer gegenwärtigen Befindlichkeit stammen. In der Ethnografie und im Museum sollten wir das Gegenteil versuchen: Kulturen und Praktiken aus den damaligen historischen Kontexten zu erklären und eben nicht heutige Wertmaßstäbe anzulegen, um eine Kultur zu beurteilen.

STANDARD: Wie wichtig war Karl May eigentlich für Sie biografisch und für Ihre Beschäftigung mit den indigenen Völkern Nordamerikas?

Feest: Als ich in den 1950er-Jahren aufwuchs, hatten wir diese Bücher natürlich bei uns zu Hause. Ich habe zuerst "Durch das Land der Skipetaren" und "Der Schut" gelesen. Danach kam dann "Winnetou" dran – und ich habe mich total gelangweilt und bei der Hälfte aufgehört. Ich habe dann viele Jahre keinen Karl May mehr gelesen und auch die Filme nicht gesehen. Erst als ich im Museum arbeitete, habe ich mich bemüßigt gefühlt, die Sachen nachzulesen. Und ich bin dann sehr viel später – also erst in den 1980er- oder 90er- Jahren, auch Mitglied der Karl-May-Gesellschaft geworden, bin das heute aus Zeitgründen aber nicht mehr.

STANDARD: Sie haben sich mit einer Arbeit über "Trinken und Trunkenheit im indianischen Nordamerika" habilitiert. Inwieweit handelt es sich dabei um ein negatives Stereotyp? Oder ist das einfach auch eine Realität?

Feest: Es ist beides. Ich habe in der Arbeit vor allem versucht, die kulturelle Aneignung des Alkohols bei den Indigenen nachzuzeichnen. Für die war Alkohol eine neue Substanz, die sie in ihr eigenes kulturelles Umfeld einbetteten – etwa auch in schamanistischen Traditionen. Dazu kam die begrenzte Verfügbarkeit, die dann, wenn man sich viel Alkohol leisten konnte, oftmals zu Exzessen führte. Der betrunkene Indianer ist sicher das gängigste negative Stereotyp über die "Indianer" in den USA: So wie Eigentumsdelikte vor allem den Weißen zugeschrieben werden und Gewaltdelikte vor allem den Schwarzen, so gelten Alkoholdelikte als Delikte der Indigenen. Das hat auch eine gewisse statistische Entsprechung bei den Verurteilungen – und entsprechend ist das bis zu einem gewissen Grad auch eine Realität. Dennoch kann ich daraus natürlich nicht schließen, dass alle Indianer Trinker sind, alle Weißen Betrüger und alle Schwarzen Gewaltverbrecher.

STANDARD: Sie haben zu Beginn des Gesprächs die Gewaltverbrechen gegen Kinder und Jugendliche indigener Herkunft in Kanada kurz angesprochen, die zuletzt während des Papstbesuchs wieder Thema wurden. Wie sehr waren diese Verbrechen repräsentativ für den Umgang mit den "First Nations"?

Papst Franziskus trägt einen traditionellen Kopfschmuck der "First Nations", den er erhielt, nachdem er sich Ende Juli in Kanada für die Verbrechen entschuldigte, die in katholischen Internaten begangen worden waren.
Foto: Nathan Denette/The Canadian Press via AP

Feest: Es ist selbstverständlich extrem grausam, was da alles herauskam. Dennoch muss man auch hier fragen, ob das in erster Linie rassistisch motiviert und auf Indianer beschränkt war oder ob das nicht allgemein in Institutionen passieren kann, wo Kinder und Jugendliche der Macht von Erwachsenen hilflos ausgeliefert sind, die selbst nicht kontrolliert werden. Man muss sich ja nur ansehen, was auch hier bei uns in katholischen Internaten an Grausamkeiten begangen wurde.

STANDARD: Ihre Fachkollegin Susanne Schröter meinte unlängst im Zusammenhang mit der Ravensburger-Affäre, dass kulturelle Aneignung "wohl die wichtigste Kulturtechnik" sei, die ein friedliches Zusammenwachsen möglich mache. Die gesamte Menschheitsgeschichte sei eine Geschichte kultureller Aneignungen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte. Ich nehme an, dem können Sie sich anschließen?

Feest: Ja. Wenn man die Kritik der kulturellen Aneignung konsequent weiterdenkt, dann hätte jene Gruppe quasi ein exklusives Recht auf das, was sie erfunden hat. Dann dürften die Indigenen in Nordamerika aber kein Auto fahren, weil das Rad von Weißen erfunden wurde. Etwas Ähnliches gilt für Impfstoffe gegen Covid-19. Es gibt aber gerade auch im musealen Kontext Fälle von Aneignung, die weder rechtlich in Ordnung noch gerecht sind und wo es zu einer Restitution kommen sollte. Aber sehr oft gibt es Grauzonen, denn diese Fragen stehen immer in politischen und sozialen Kontexten und werden erst durch die Politisierung zu einem Thema. Ein gutes Beispiel sind die Benin-Bronzen.

STANDARD: Ich dachte, dass dieser Fall ziemlich eindeutig und ein Rückgabe angebracht wäre.

Feest: Die Sache ist komplizierter. So kann man durchaus argumentieren, dass diese Plastiken heute wertlos wären, wenn sie nicht nach Europa und auf den Kunstmarkt gekommen wären, was ihren Wert ins Unermessliche steigen ließ. Dann gilt es, die konkreten Umstände zu berücksichtigen, wie diese Bronzen nach Europa gekommen sind. Die waren für die Bronzen in Deutschland andere als für die in Großbritannien oder Frankreich. Natürlich bin auch ich der Meinung, dass die internationale Verteilung dieser Artefakte ungerecht ist. Aber meines Erachtens sollten wir trotzdem anstreben, die Aufbewahrung und Pflege dieses kulturellen Eigentums möglichst gemeinsam mit den Nachfahren jener Kulturen zu verantworten, aus denen sie stammen. Das hielte ich für die bessere Lösung als jene, die Dinge einfach zurückzugeben. (Klaus Taschwer, 31.8.2022)