Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer hat noch 150 Tage Zeit für grundsätzliche Reformen in Staat und Partei, sagt Peter Plaikner im Gastkommentar. Dann wählt Niederösterreich.

Franz von Defreggers "Das letzte Aufgebot".
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Karl Nehammer fühlt sich wohl in Tirol. Ob beim Skiurlaub mit Johanna Mikl-Leitner in Kals oder auf Denker-Sommerfrische bei Günther Platter in Alpbach: Der kantige Auftritt von Land und Leuten der alpinen Provinz liegt dem Kanzler besser als das tückische Antichambrieren in der Metropole. Der Fast-Fünfziger taugt eher als Vorlage für einen Holzschnitt denn zur Trittsicherheit auf dem glatten Hauptstadt-Parkett. Auch deshalb gilt der Meidlinger politisch eher als einer aus Niederösterreich, wo vor allem sich sein Schicksal entscheiden wird: die Verweildauer am Wiener Ballhausplatz.

Nach herkömmlichen Kriterien für Gedeih und Verderb im Bundeskanzleramt könnten die Aussichten für Nehammer kaum trüber sein. Knapp neun Monate ist er Regierungschef und hat kaum etwas weitergebracht. Schlimmer noch aus VP-Perspektive: Der grüne Koalitionsjunior verbucht inhaltlich mehr Fortschritt als "Die Volkspartei", wie das schwarz-türkise Konstrukt sich seit Ablegen seiner Tarnkappe in alter Bodenständigkeit nun nennt. Die auffällige Erdnähe nach dem vermeintlichen Überflieger Sebastian Kurz und seinem in 56 Tagen gescheiterten Nachfolger Alexander Schallenberg geriet zum Startvorteil. Mehr Medien-Wohlwollen war selten zum Antritt eines Kanzlers.

Wachsendes Strategiedefizit

Diese Zurückhaltung erklärt sich auch aus der Untauglichkeit früherer Standards zur Beurteilung einer politischen Gesamtleistung. Mehr noch als für seine Vorgänger überlagern Großkrisen Nehammers Amtszeit: Pandemie, Ukraine, Teuerung. Das allzu oft beschworene "Schlimmste seit dem Weltkrieg" ist allgegenwärtig. Die öffentliche Notenvergabe für das Krisenmanagement irrlichtert zwischen Berechtigung und Kompetenzanmaßung. Es dominiert Feuerlöscherpolitik. Nirgends gab es Pläne für die Fälle der Fälle. Das infolge kurzfristiger Wahlkalkulationen ständig wachsende Strategiedefizit der Parteien rächt sich auf demokratiebedrohende Weise. Der Vertrauensverlust ist systemgefährdend.

"Vergleiche mit dem Untergang der Democrazia Cristiana erhalten immer mehr Grundlage."

Das gilt allgemein, aber besonders für die seit 35 Jahren ununterbrochen (mit)regierende ÖVP. Eine beispiellose Reihe an Skandalen von den Wiener Chat-Protokollen bis zur Vorarlberger Inseratenaffäre erschüttert sie derart, dass Vergleiche mit dem Untergang der Democrazia Cristiana immer mehr Grundlage erhalten. Es fehlt die erzwungene Regeneration durch Opposition, die zu interner Defizitbehebung zwingt. Aufgrund einer solchen Überlegung müsste sie sehenden Auges in die Niederlage sofortiger Neuwahlen steuern. Doch kurzfristiger Machtanspruch stempelt solche Gedanken zum Hochverrat. Statt des Versuchs der Selbstheilung dominiert die Symptombekämpfung.

Bei der Tirol-Wahl drohen der ÖVP starke Verluste. Spätestens dann wird die Obmanndebatte um ihn neu entflammen: Parteichef Karl Nehammer.
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Was parteiintern von der wahren Schwäche ablenkt, ist auch medial am einfachsten vermittelbar: Nehammer steht zur Diskussion, Finanzminister Magnus Brunner bereit und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler in Reserve. Dass sie auch als Alternative nach Schallenberg galt, der aktuelle Favorit aber ein Staatssekretär "Wer?" war, sagt viel über die Personaldecke der Partei, die eher dort ihre letzten Reserven verschleißt als ihr Fundament zu reparieren. Denn trotz ihrer Schwäche an der Spitze ist das größte Manko der ÖVP ihre Beliebigkeit. Für die oberflächliche Professionalisierung hat sie ihre Seele verkauft. Umfragehörigkeit und Kommunikation statt Werthaltung: Was unter Kurz übergeschwappt ist, hat Nehammer nicht in Bahnen gelenkt. Vom Abstecher zur Sozialkompetenz über Ablenkung per Außenpolitik bis zum Rückfall in Migrationsszenarien dient alles bloß der schnellen Schlagzeile.

Absturz erwartet

Der Lack ist ab. Zwischen 100 Prozent Zustimmung auf dem Bundes- und "Alkohol oder Psychopharmaka"-Sager auf dem Tiroler Parteitag lagen nur acht Wochen. Weitere acht Wochen später steht Nehammer auch wegen Tirol infrage, des schwarzen Kernlands mit überproportionalem internem Gewicht. Umfragen lassen dort am 25. September einen Absturz ohnegleichen erwarten. Die ÖVP kam 2018 auf 44 Prozent, jüngste Momentaufnahmen sehen sie bei 26. Platter hat bei der Übergabe an Wunschnachfolger Anton Mattle alles falsch gemacht – insbesondere durch sein Verweilen als Landeshauptmann. Daneben taumelt der Spitzenkandidat mit dem Nachnamen als Listenbezeichnung für die ÖVP von den Russland-Sanktionen bis zum Wien-Bashing von einer Peinlichkeit zur nächsten Artikulationsnot. Parteigeschäftsführer Martin Malaun baut bereits vor, indem er 30 Prozent als Ausgangsbasis definiert und hofft, "in Richtung 35" zu kommen. Das liegt tiefer als die Kurzschubumkehr: Das historisch schlechteste Ergebnis waren 39 Prozent. Hätten nicht alle Parteien eine Koalition mit der FPÖ abgesagt, stünde der Landeshauptmannposten auf dem Spiel. So läuft es auf Schwarz-Rot zu – allenfalls mit einem Dritten. Bisher sind die Grünen der Juniorpartner.

"Während in der SPÖ die Träume von einer Rückkehr des Christian Kern immer wieder aufflackern, hat die ÖVP nicht einmal eine recyclingfähige Leitfigur im Fundus."

Doch auch diese Koalitionsanalogie mit dem Bund sollte weder den Kanzler sein Amt kosten noch für vorzeitige Neuwahlen sorgen. Denn während in der SPÖ die Träume von einer Rückkehr des Christian Kern immer wieder aufflackern, hat die ÖVP nicht einmal eine recyclingfähige Leitfigur im Fundus. Ihre Alternativen wären nur eine Fortsetzung des Leids mit anderem Gesicht. Jenes von Nehammer wird nach dem außerirdischen Wien-Refugium Alpbach kaum noch ein Bild vom Tiroler Wahlkampf stören. Die Gnadenfrist für den Ex-Generalsekretär, der allzu viel über die Parteizentrale weiß, geht in die Kanzleramtsverlängerung. Er hat noch 150 Tage Zeit für grundsätzliche Reformen in Staat und Partei. Denn frühestens am 29. Jänner wählt Niederösterreich. Erst wenn Mikl-Leitner dort extrem abstürzt, bleibt in der gesamten ÖVP kein Stein mehr auf dem anderen. (Peter Plaikner, 4.9.2022)