Hartnäckige Wohltäterin mit Cowboyhut: In "Vera" von Tizza Covi und Rainer Frimmel erhält Vera Gemma, Tochter von Guliano Gemma, ihren großen Auftritt.
Foto: Filmfestival Venedig

Alles wie früher? Wer sich derzeit über das Festivalgelände am Lido bewegt, könnte sich leicht von der Geschäftigkeit täuschen lassen. Zurück sind die Großplakate von Herbsttiteln wie Bardo, Tár oder Don’t Worry Darling, fort dafür die Schutzmauer vor dem roten Teppich. Und was am wichtigsten ist: Stars wie Greta Gerwig, Cate Blanchett oder Timothée Chalamet liefern sich einen wahren Stafettenlauf, um den Filmen den nötigen Boost zu verleihen.

Dahinter verbirgt sich die Jagd auf ein Publikum und dessen unklare Konsumpräferenzen. Am deutlichsten symbolisiert wird die Ungewissheit natürlich vom Netflix-Strahl, der zu Festivalbeginn besonders oft aufleuchtete. Der Streamingmarkthirsch hat bereits angekündigt, Filme wie White Noise oder Alejandro G. Iñárritus Bardo weiterhin nur mit kleinen Zeitfenstern in Kinos zu starten. Dabei rechnete das US-Blatt Variety unlängst vor, dass Netflix bei Roma mit dieser Strategie rund 20 Millionen Dollar auf der Strecke ließ.

Das Ringen um Aufmerksamkeit findet in Venedig aber auch deshalb so lautstark statt, weil hier der Startschuss zum Oscar-Vorlauf erfolgt, und da rechnen sich mittlerweile auch internationale Filme gute Chancen aus. Oscargewinner Iñárritu darf sich etwa mit seinem auf Spanisch gedrehten Film nach seiner heftig akklamierten Premiere als Anwärter fühlen. Bardo ist ein als Schelmenstück getarntes existenziellen Drama. Erzählt wird von einem renommierten Journalisten (Daniel Giménez Cacho), der zwischen Selbstüberschätzung und -zweifeln schwankt. Iñárritu sprudelt richtig über vor inszenatorischen Ideen – gleich zu Beginn wird ein lebensüberdrüssiger Säugling zurück in den Bauch der Mutter gedrückt. Die überspannte Satire leidet aber unter der Eitelkeit seines Regisseurs. Am besten ist sie, wenn sie sich an heutige Verfallserscheinungen hält und etwa die Niederungen von Medienbetrieben aufs Korn nimmt.

Macht und Hierarchie

Nicht weniger ambitioniert, aber thematisch noch viel schärfer auf Gegenwartsdebatten gemünzt ist Todd Fields Tár. Cate Blanchett spielt die Stardirigentin Lydia Tár, die es an die Spitze der klassischen Musikwelt geschafft hat und gerade in Berlin Gustav Mahlers Fünfte Symphonie einstudiert.

Den Film als Charakterstudie einer manipulativen Künstlerin zu charakterisieren greift zu kurz. Tár wird in der von der österreichischen Cutterin Monika Willi fragmentarisch wie ein Haneke-Drama montierten Erzählung zwar von einem Mobbingfall eingeholt. Doch Field geht es stärker darum, die Widersprüche einer Kulturindustrie auszuloten: Kunst und Meisterschaftsprinzip, Machtfülle und starre Hierarchien. Die Überschreitung ethischer Grundsätze erscheint systembedingt. Die Fragen dieses couragierten Films sind äußerst akut und werden mit Sicherheit noch kontrovers diskutiert werden.

Treue zum eigenen Stil

Das muss man sich von Luca Guadagninos Bones and All nicht erwarten, obwohl er ein Kannibalenpärchen (Taylor Russell, Chalamet) auf Identitätssuche schickt. Mit viel Sensibilität überschreibt Guadagnino einen klassischen Americana-Stoff à la Badlands – ein neues Terrain, in dem er sich aber treu bleibt.

Dasselbe könnte man auch über Vera von Tizza Covi und Rainer Frimmel sagen, der in der Orizzonti-Sektion läuft. Das heimische Regiepaar hat mit Vera Gemma, der Tochter des Italowestern-Stars Giuliano Gemma, eine besondere Orchidee des italienischen Kinos als Protagonistin. Vera ist das Porträt einer Frau, die ständig am Ruhm ihres Vaters gemessen wird. Covi und Frimmel schenken ihr nun eine raffiniert geflochtene Erzählung, in der sie zum Sprung ansetzt und dennoch auf der falschen Seite landet. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 4.9.2022)