Probleme gibt es unter anderem im AKW Civaux.

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Von den 56 Meilern auf französischem Staatsgebiet stehen derzeit 32 still – mehr als je zuvor. Zu den fahrplanmäßigen Wartungsarbeiten kommt ein unvorhergesehenes Korrosionsproblem in mindestens vier Reaktoren,in Civaux (Westfrankreich), Cattenom (Lothringen) und Penly (am Ärmelkanal): An einzelnen Leitungen im Notfallkühlsystem wurde Rost festgestellt.

Die feinen Risse haben massive Folgen. Frankreich muss mit einem Mal Strom aus Deutschland importieren; laut dem Netzbetreiber Réseau de Transport d’Electricité (RTE) bezog es im letzten Zählmonat Juni über 2.000 Gigawattstunden aus deutschen Kohlekraftwerken und Windparks. Das trifft nicht nur den französischen Nationalstolz, der auch für die CO2-freie Kernkraft gilt, sondern bedroht im gespannten Umfeld den gesamten Strommarkt Europas: Die Preise für eine Kilowattstunde haben sich auf bald 1.000 Euro verzehnfacht.

Verstaatlichung in höchster Not

Die Regierung in Paris, wegen der Inflation ohnehin unter Druck, befürchtet einen sozialpolitisch heißen Herbst, da viele Leute die Stromtarife nicht mehr bezahlen können. Letztere sind zwar reglementiert: Der Stromkonzern Electricité de France (EDF) muss seine Produktion teils unter dem Gestehungspreis abgeben. Auch deshalb ist die EDF mit 43 Milliarden Euro hoffnungslos verschuldet. Die Regierung musste im Juli ankündigen, sie werde den Staatsanteil an EDF von derzeit 84 auf 100 Prozent erhöhen.

Die Verstaatlichung in höchster Not wird aber die Korrosionsprobleme des AKW-Parks auch nicht schneller lösen. Umweltministerin Agnès Pannier-Runacher hat die EDF letzte Woche kategorisch aufgefordert, alle gewarteten Reaktoren "für den Winter" wieder in Betrieb zu nehmen. Der Stromriese will nun vier abgeschaltete Reaktoren bis Weihnachten wieder ans Netz nehmen, die restlichen im Februar. Die Hausgewerkschaften zweifeln aber, daran dass dies realistisch sei, zumal die Atomsicherheitsbehörde ASN erst noch grünes Licht geben muss.

Angriff auf die Regierung

Auch EDF-Vorsteher Jean-Bernard Lévy verwahrt sich gegen die Druckversuche der Regierung und den impliziten Vorwurf, der AKW-Betreiber habe sich die Produktionspanne im dümmsten Moment eingebrockt. Lévy kontert ungewöhnlich offen und wirft der Staatsführung vor, sie sei selber schuld an dem Schlamassel. Noch 2018 habe sie den Abbau von einem Dutzend Reaktoren angekündigt und das AKW Fessenheim im Elsass ganz abgeschaltet. "Warum haben wir nicht genug Wartungsteams?", fragte Lévy. "Weil uns gesagt wurde, wir sollten AKWs schließen. Wir haben keine Schweißer und Installateure mehr eingestellt, um zwölf Reaktoren zu bauen, wir haben vielmehr Leute eingestellt, um zwölf Reaktoren abzubauen."

In der Tat hatte der frühere Staatspräsident François Hollande noch 2017 erklärt, Frankreich werde den Atomanteil an der Stromproduktion von 80 auf 50 Prozent herunterfahren, also mehrere Meiler stilllegen. Sein Nachfolger Macron setzte diese Strategie fort und zwang EDF, auf erneuerbare Energien umzusatteln. Unter dem Eindruck der Klimaerwärmung hat er aber wieder umgedacht: 2021 kündigte er den Bau von sechs neuen EPR-Reaktoren an; in den bisherigen will er die Laufzeiten auf 50 Jahre verlängern.

Kritik an Macron

EDF-Boss Lévy prangert das Hin und Her der französischen Energiepolitik nicht ungestraft an. Macron erklärte genervt: "Was ich gehört habe, ist falsch. Es ist völlig inakzeptabel, dass die für die Wartungsarbeiten Zuständigen uns heute erklären wollen, wir hätten verantwortungslos gehandelt." Mit "wir" meint er natürlich sich selbst.

Energieexperten wie Fabien Bouglé geben Lévy allerdings recht. Auch die konservative Senatorin Sophie Primas bezeichnete es am Dienstag als "skandalös", wie Macron den EDF-Vorsteher abkanzle. Der kommunistische Senator Fabien Gay erinnerte daran, dass Macron als Hollandes Berater und später als Wirtschaftsminister selber für den Staatsbetrieb EDF zuständig gewesen sei; und Lévy habe immer wieder vor Engpässen im AKW-Park und sogar einem Strom-Blackout gewarnt.

Auch die Sozialistin Marie-Noëlle Lienemann wandte sich dagegen, aus dem EDF-Vorsteher einen "Sündenbock" zu machen. Lévy sollte an sich im kommenden Frühjahr in Pension gehen. So lange wird er aber kaum mehr im Amt bleiben. Wie am Dienstag aus Regierungskreisen verlautete, dürfte seine Nachfolge "in den nächsten Tagen" geregelt sein. In der Hoffnung, dass die neue EDF-Spitze Frankreich besser durch den nuklearen Winter bringen wird. (Stefan Brändle aus Paris, 8.9.2022)