Im Gastblog schreibt Germanistin Barbara Dvoran über alltägliche und kuriose Veränderungen in der Sprache.

Eine neu entdeckte Leidenschaft von mir ist es, im österreichischen Wörterbuch, und zwar in der eben erschienenen bunten Jubiläums-Sonderausgabe, zu blättern. Es sitzt – liegt nicht, denn es kommt nicht zur Ruhe – griffbereit auf dem Schreibtisch. Ich schlage zufällig eine Seite auf und sehe nach, ob ich unbekannte oder in Vergessenheit geratene Wörter entdecke. Gefällt mir ein Wort besonders gut, notiere ich es mir. Meistens gehe ich davon aus, es mir auf Anhieb zu merken, was gewiss nicht der Fall ist. Ich ahne es bereits, dieser Zeitvertreib gilt wahrscheinlich als schrullig. Doch ich bin damit gewiss nicht allein.

Die Suche in Büchern kann unbekannte Wörter zeigen, während das Zuhören im öffentlichen Raum ungewöhnliche Sprechweisen offenbart.
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Ein ähnliches Verhalten legt der (ich muss gestehen, schräge) Protagonist in dem in New York spielenden Roman "Der Froschkönig" an den Tag. Er liest nicht im, sondern das Wörterbuch und lernt es auswendig. Der junge Mann ereifert sich auch in Wettkämpfen mit einem Kollegen, wer mehr schwierige Wörter kenne und sie zu definieren wisse. Für all das wurde das Internet nicht benötigt und es gibt auch heute wieder vermehrt lobenswerte Versuche, von der Angewohnheit wieder abzukommen, alle Informationen unverzüglich während eines Gesprächs online auf dem Handy nachzusehen. Angeregte Diskussionen, Wetten darum, wer recht behält, frei erfundene, überzeugend klingende Theorien und Ratespiele kommen allesamt zu kurz. Blickt man auf das Display, um eine Sache nachzusehen, sieht man dabei auch vier andere, denen man sich unverzüglich widmet, wodurch das Gespräch in den meisten Fällen unterbrochen wird.

Bewegung über mehrere Sprachen

Sogar in der eigenen Sprache scheint die Möglichkeit, sein Wissen zu erweitern, sei es nun Wortschatz, Rechtschreibung in kniffligen Fällen, Redewendungen oder Neubildungen betreffend, grenzenlos. Gleichzeitig können Wörter, wenn man im anderssprachigen Ausland oder in einem wortkargen Umfeld lebt, schnell in Vergessenheit geraten. Es gibt viele Menschen, die die grammatischen Strukturen der Zweitsprache in die eigene übertragen oder das Wort der anderen Sprache in den deutschen Satz einfügen. Oft bemerkt man die Präferenzen (statt Vorlieben) einer Person von Strukturen, Ausdrücken oder Redewendungen, wenn man die andere Sprache kennt. Das hat Vor- und Nachteile.

Während des Deutschunterrichts oder eines Gesprächs mit Menschen, die wenig Deutsch sprechen, verstehe ich oft, was gemeint ist. Andererseits muss ich aufpassen, diese Struktur oder zum Beispiel das lateinische Fremdwort nicht "zu gut" zu verstehen und für richtig oder passend zu befinden. Meist handelt es sich nicht um gänzlich falsche Sätze, aber um unübliche. "Das sagt man im Deutschen eher nicht", denke ich manchmal, wenn ich mit Freundinnen und Freunden, die zum Beispiel im englischsprachigen Ausland leben, telefoniere.

Man hört auch umgekehrt im öffentlichen Leben deutschsprachige Begriffe wie "Krankenschein", "Anmeldung", "Finanzamt", "Kinderbeihilfe" in (Telefon-)Gesprächen, die in anderen Sprachen geführt werden. Das ergibt auch Sinn, da sie sich auf Außersprachliches der hiesigen Lebensrealität, sprich Dinge oder Orte in einem deutschsprachigen Umfeld, beziehen. Allerdings setzt diese Art der Kommunikation voraus, dass auch die andere Person mit dieser Lebenswelt vertraut ist. Die Vermischung geschieht nicht immer bewusst und kann auch einschränkend wirken. So warf meine ehemalige österreichische Kollegin in Portugal in ihren Telefonaten regelmäßig portugiesische Wörter ein, die ihre oberösterreichischen Bekannten auch mit ausgezeichneten Lateinkenntnissen oder nach mehreren ausgedehnten Estoril-Urlauben – Estoril liegt etwa zwanzig Minuten von Lissabon entfernt an der Küste Richtung Cascais – gewiss nicht verstanden.

Wörter vergessen oder verändern

Da Sprache lebendig ist, muss sie auch gelebt, also gesprochen, gehört oder gelesen werden, um nicht vergessen zu werden. Auch das Vergessen ist in Ordnung, wenn sie nicht mehr oder kaum gebraucht wird. Unser Gehirn beziehungsweise das Erinnerungsvermögen passt sich gekonnt den Notwendigkeiten an. Doch zurück zu Sprachlichem: Gerade die Schreibweise von Wörtern, die man nicht oft gebraucht, geht schnell verloren. Die meisten Falschschreibungen in Medien beziehungsweise Werbung betreffen jedoch nicht diese Feinheiten, sondern – damals wie heute – die Getrenntschreibung von Substantiven. Das wird aufgrund des englischsprachigen Einflusses und der Internet-Suchmaschinen noch verstärkt. Die Suchergebnisse richten sich sehr stark nach den Keywords, Schlagwörtern. Gebe ich nun in die Suchmaschine "Eis Pistazien Geschmack" oder "Geburtstag Kuchen" ein, haben Seiten, die diese Begriffe getrennt verwenden, teilweise bessere Chancen, gefunden zu werden – ein Teufelskreis. Dadurch werden viele werbende Unternehmen nicht den Weg der richtigen Schreibweise vorziehen. Sichtbarkeit geht insgesamt heutzutage vor. Schlagwörter sind die neuen Flitzer.

Was wird geschrieben? Was wird gelesen? Wie viele lieblos geschriebene Texte liest eine Person, die online etwas sucht? Es gibt Unmengen an Texten beziehungsweise Bildern mit Text, die durch Werbung finanziert werden und deren einzige Existenzberechtigung darin besteht, aufgerufen zu werden. Inhalt und Form sind zweitrangig. Schade um diese Wortverschwendung. Schließlich stehen uns nicht unendlich viele Wörter zur Verfügung, die ins Gespräch oder zu Papier gebracht werden können. Schöner und im Sinne des Friedens wäre es, jene Wörter zu sprechen, zu singen oder zu schreiben, die anderen Menschen Wissen vermitteln, sie ermutigen, sie beruhigen oder sie zum Lachen bringen. Und: Je ärmer unser Ausdrucksvermögen wird, desto schwerer tun wir uns, zu sagen, was wir denken und fühlen. Das führt zu mehr Konflikten und mehr Gewalt. (Werfe ich in den kommenden Tagen jemandem mein schweres Wörterbuch in Rage um die Ohren, wissen Sie, dass ich doch Unrecht hatte.)

Spanisch: Zum Trinken kein Glas

Die Idee der begrenzten Anzahl an Worten in einem Leben ist nicht neu. Letzte Woche wurde am mexikanischen Tag des Kinofilms im Rahmen einer Kurzfilmreihe im Kulturinstitut Mexikos in Wien ein humorvoller Film über ein junges Mädchen gezeigt, das zu dem Schluss kommt, die Wortanzahl, die uns im Leben zu Verfügung steht, könnte begrenzt sein. Man sollte sie nicht verschwenden. Kulturelle Veranstaltungen stellen eine herausragende Möglichkeit dar, eine Sprache zu üben – die Filme wurden auf Spanisch mit Untertiteln gezeigt und auch das Publikum unterhielt sich auf Spanisch. Nebenbei ist auch eine sehr interessante, farbenfrohe Ausstellung zu bewundern, beherrscht von einem menschengroßen Drachen aus mexikanischem Pappmaché.

In Spanien benötigt manch einer seine gafas, um die Speisekarte zu lesen – hoffentlich nicht, um jemandes Essen anzugaffen. Was im Süden wie auch in Österreich während Hitzewellen Abhilfe schafft, ist, ein Glas – un vaso – zu trinken. Hier ist nicht die Rede von Glas. Wir trinken das Getränk daraus, wissen aber, was gemeint ist. Diese Aussage gibt es in den verschiedensten Sprachen – in welchen ist sie nicht möglich? Metonymie heißt solch ein Ersetzen durch einen verwandten Ausdruck, deren Anwendung in vielen Fällen bereits eine relativ hohe Sprachkompetenz voraussetzt.

Ich wünsche gute Unterhaltung beim sommerlichen Lesen, sei es nun von Wörterbüchern oder flippigen Texten online. Flipo oder yo flipaba (al ver tanta cosa) vernahm ich zum Beispiel in Andalusien, wenn jemand Spaß hat oder etwas nicht glauben kann. Als ich das hörte, bin ich ausgeflippt. Mit einem weisen Zitat aus "Die Zeit im Jahre 1986" verabschiedet sich der heutige Blog: Die Fähigkeit, kleineres Unrecht zu ertragen, ohne auszuflippen, wird im Leben jedem Menschen zugemutet, immer wieder. (Barbara Dvoran, 12.9.2022)