Norwegen hat Russland als größten Gaslieferanten der EU abgelöst. Die Einnahmen aus Gas, Öl und Elektrizität belaufen sich dieses Jahr voraussichtlich auf über 200 Milliarden Dollar – und sind damit rund viermal so hoch wie in vergangenen Jahren.

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Nicht nur Österreich, auch Deutschland und weitere EU-Mitglieder stöhnen unter den hohen Energiekosten. Es wirkt, als würden alle gleichermaßen unter den hohen Preisen leiden. Doch dem ist nicht so. Denn während die Europäische Union vergangenen Freitag ein Sonderenergieministertreffen organisierte, um über Krisenmaßnahmen zu diskutieren, hat ein europäisches Land wenig Interesse an preisdämpfenden Maßnahmen; die Rede ist vom neuerdings größten Gaslieferanten der EU, Norwegen.

Abgelöst haben die Skandinavier Russland, das im Zuge zahlreicher "Lieferprobleme" nur noch rund neun Prozent der EU-Gasimporte ausmacht. Zum Vergleich: vor der Invasion belief sich der Anteil russischer Gaslieferungen auf rund 40 Prozent. Um die ausfallenden Lieferungen kompensieren zu können, stieg die EU auf andere Zulieferer um.

Die logische Wahl war Norwegen, das über große Gas- und Ölressourcen verfügt und bereits in der Vergangenheit als verlässlicher Energieexporteur fungierte. Von den im vergangenen Jahr produzierten 2 486 Terrawattstunden Energie wurden 92 Prozent exportiert – ein wichtiger Abnehmer war bereits damals die EU.

Rekordeinnahmen für Norwegen

Die in den vergangenen Monaten rapide steigenden Großhandelspreise am europäischen Gasmarkt sorgen somit nicht mehr nur für volle Kassen in Russland – auch Norwegen profitiert von den gestiegenen Preisen am Spotmarkt. Die Einnahmen aus dem Export fossiler Energieträger beliefen sich in der Vergangenheit auf rund 50 Milliarden Dollar – für dieses Jahr prognostiziert werden hingegen über 200 Milliarden Dollar. Und selbst bei längerfristig abgeschlossenen Verträgen am Gasmarkt kommt man derzeit nur unwesentlich günstiger davon.

Hauptgrund dafür ist, dass selbst viele der langfristig abgeschlossenen Verträge Spotmarkt-gebunden sind, sagt Ingmar Schlecht vom Center of Energy and Environment der Züricher Hochschule ZHAW. Abnehmer hätten in den vergangenen Jahren darauf spekuliert, von fallenden Gaspreisen zu profitieren, wie dies auch einige Zeit der Fall war. Aufgrund der ausfallenden Lieferungen Russlands stiegen die Preise in den vergangenen Monaten allerdings in lichte Höhen – derzeit hat sich der Gaspreis zwar wieder stabilisiert, allerdings auf rund zehnfacher Höhe des historischen Wertes, so der Energieexperte.

Rufe nach Gaspreisdeckel

Demnach überrascht es auch nicht sonderlich, dass zunehmend Rufe nach Veränderungen laut werden. War man in der EU zu Beginn noch froh darüber, einen Energielieferanten innerhalb Europas zu haben, um von russischem Gas und Alternativen aus autokratischen Regimen im Nahen Osten fernzubleiben, begann angesichts der Gaspreise ein Umdenken in einigen EU-Staaten. Polen etwa hat erst vor kurzem eine Pipeline nach Skandinavien fertiggestellt, dafür aber keine langfristigen Lieferverträge abgeschlossen. Für das Gas in der Pipeline muss Polen nun den Rohstoff zu aktuellen Marktpreisen erwerben – ein schwerer Schlag angesichts der jüngsten Preisentwicklungen.

EU-Diplomaten zufolge hätten mehr als die Hälfe aller EU-Mitgliedsstaaten Gaspreisdeckelungen beim Energieministertreffen ins Spiel gebracht. Von einer Einigung sei man allerdings deutlich entfernt gewesen – zu unterschiedlich seien die konkreten Vorschläge. In Österreich brachte Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) vergangenen Freitag erneut den Vorschlag eines europaweiten Gaspreisdeckels ins Spiel; auch Italien und Belgien sprachen sich jüngst dafür aus.

Norwegens Premierminister Jonas Gahr Støre hält davon wenig überraschend nicht viel; schließlich würde der Preisdeckel Norwegens Profite deutlich komprimieren. Er warnt stattdessen vor "unbeabsichtigten Konsequenzen" am Gasmarkt, bekräftigt gleichzeitig aber die Ansprüche Norwegens, als verlässlicher Energielieferant für die EU fungieren zu wollen.

Norwegen in der Zwickmühle

Für Norwegen wird die Situation daher zunehmend zu einer Abwägungssache. Die Frage lautet: Weiter von den hohen Preisen profitieren oder auf die EU zugehen, um die guten Beziehungen aufrecht zu erhalten? Einen ersten Schritt auf die EU zu ging Premierminister Støre nun kürzlich mit seiner Ankündigung, großen Energieunternehmen langfristige Verträge zu empfehlen, die dafür zu günstigeren Preisen abgewickelt würden. Dies könnte die EU-Mitglieder entlasten und gleichzeitig stabile Profite für Norwegen auch in Zukunft gewähren. Nach einem Telefonat mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag bekräftigte Støre zwar seine Meinung, gab sich allerdings offen für einen engeren Dialog. (Nicolas Dworak, 13.09.2022)