Die Therapie mit Virtual Reality kann dabei helfen, mit Höhenangst besser umzugehen.

Fotos: Christian Fischer / Montage: STANDARD

Nur eine Holzplanke schützt mich vor dem Fall in die Tiefe. Vor mir stehen Wolkenkratzer aus Stahl, Glas und Beton. Unten auf der Straße schlängeln sich Autos durch den Verkehr, der Lärm dringt dumpf herauf. Während ich über dem Abgrund kauere und in die Weite blicke, macht sich Panik breit.

Meine Beine zittern, die Muskeln verkrampfen sich, das Herz schlägt schneller. Die Hände sind schweißnass. Beim Blick in die Ferne wird mir auf einmal sehr schwindelig. Ich habe das Gefühl, keinen Halt zu finden, und schwanke. "Mach dir noch einmal bewusst: Du stehst bei uns im Praxiszimmer", sagt eine Stimme neben mir. Blinzelnd nehme ich die Virtual-Reality-Brille ab.

Ich stehe nicht mehr auf der Planke, sondern in einem geräumigen Altbauzimmer. Von draußen dringt leise das Treiben auf der Mariahilfer Straße herein. Neben mir steht Johannes Rother, Psychologe beim Wiener Therapiezentrum Phobius.

Das Team hat sich auf die Behandlung von Phobien und Ängsten spezialisiert. Menschen kommen her, um ihre Ängste zu bearbeiten – vor Spinnen und Hunden, aber auch Vorträgen und Gewittern. Ich bin wegen meiner Höhenangst hier.

Angst als Grundemotion

Die Angst vor der Höhe ist eigentlich etwas ganz Normales, erklärt Rother. Es ist eine Grundemotion, die mich vor gefährlichen Situationen schützt. Höhe ist nicht das Umfeld, in dem sich Menschen wohlfühlen. Allein bin ich mit meiner Angst deshalb nicht. Rund 30 Prozent aller Menschen leiden laut Rother unter Höhenangst – zumindest latent. Die meisten Menschen, mich eingeschlossen, schränkt ihre Angst im Alltag also nicht allzu sehr ein.

Bei knapp fünf Prozent der Be völkerung ist das anders. Bei diesen Menschen wird die Angst zum Pro blem. "Bei einer Angststörung meint es die Angst etwas zu gut mit uns", erklärt Rother. Obwohl die Menschen rational wissen, dass ihnen nichts passieren kann, reagiert ihr Körper mit heftigen körperlichen und psychischen Symptomen. Manchen Betroffenen fällt es durch ihre Höhenangst schwer, eine Glühbirne zu wechseln, weil sie nicht auf eine Leiter steigen wollen.

Psychologe Johannes Rother (links) nutzt Virtual Reality, um Betroffene mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Sie zahlen 120 Euro für eine Einheit.
Foto: Christian Fischer

Das Gehirn austricksen

Die gute Nachricht: Vor allem mit Virtual Reality (VR) lässt sich Höhenangst meist gut behandeln, sagt Rother. Ziel der Behandlung ist es, die Höhenangst zu normalisieren und mit ihr umzugehen. Dafür greift er auf eine Methode zurück, die schon seit vielen Jahrzehnten bei der Behandlung von Angststörungen eingesetzt wird: die Konfrontationstherapie. Dabei konfrontiert er Betroffene Schritt für Schritt mit ihrer Angst.

Gerade dafür ist die virtuelle Realität ein nützliches Werkzeug. Rother kann Patientinnen und Patienten in Angstsituationen versetzen, ohne dass sie einer tatsächlichen Gefahr ausgesetzt sind. Gleichzeitig wirkt das Erlebnis sehr real. Das Gehirn unterscheidet nämlich nicht zwischen Wirklichkeit und der virtuellen Welt. Die Reize überlisten das Gehirn so, dass Patienten wirklich das Gefühl haben, in der Situation zu sein. Auf der Holzplanke erlebe ich, wie gut das funktioniert.

Biofeedback zeigt Körpersignale

Bevor er mich in die virtuelle Welt schickt, notiert Rother Aus löser und Symptome meiner Angst. Ich nenne Situationen, die bei mir Höhenangst auslösen, und schätze ihren Schweregrad ein, vereinfacht gesagt von "entspannt" bis "Todesangst". Danach wird es praktischer.

Der Psychologe zeigt mir ein YouTube-Video zweier Männer, die in Schanghai zuerst auf einen Wolkenkratzer klettern und dann noch weiter auf einen roten Baukran steigen. Ich kann kaum hinsehen. Wie sich das Video auf meinen Körper auswirkt, misst Rother mit einem kleinen Biofeedbackgerät, das ich mir ans Ohrläppchen klippe. Auf dem iPad liest er meinen Puls und die Herzratenvariabilität ab, den Abstand zwischen einzelnen Herzschlägen.

Links im unteren Diagramms ist die Stressreaktion sichtbar, das Herz schlägt gleichmäßiger. Durch die Bauchatmung wird daraus eine Sinuskurve – das Herz schlägt mal schneller, mal langsamer. Ein Signal für Entspannung.
Foto: Florian Koch

Je gleichmäßiger das Herz schlägt, desto eher ist es im Alarmzustand. Das sehen Rother und ich an der Kurve auf dem iPad, die durch das Video nun sehr gerade verläuft. Er empfiehlt, die Aufmerksamkeit auf die Farbe des Baukrans zu lenken. Gleichzeitig soll ich durch den Bauch atmen, um mich zu beruhigen. Es wirkt: Das Diagramm steigt nun wie eine Sinuskurve auf und ab, mein Puls normalisiert sich. Auf diese Weise vermittelt Rother seinen Patienten, wie sie sich in Angstsituationen verhalten können. Das auf der Holzplanke anzuwenden hat beim ersten Mal nicht geklappt. Also: VR-Brille aufsetzen.

"Jede Konfrontation ist eine Chance"

Wieder stehe ich auf der Planke über dem Abgrund. Schon ist es weniger schlimm, mir kann nichts passieren. Ich setze einen Fuß vor den anderen und erinnere mich, in den Bauch zu atmen und meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die Tiefe zu lenken. Bald atme ich langsamer. Eine Weile blicke ich in die Ferne, dann nehme ich die VR-Brille erleichtert ab.

Mit anderen Betroffenen würde Rother nun hinausgehen in die echte Welt, etwa den Donauturm hinauf. Dafür fehlt heute die Zeit. Ich frage, ob er mir empfehlen würde, auf den Stephansdom zu steigen. "Ich kann dir nur raten, dich deinen Ängsten zu stellen", sagt er. "Jede Konfrontation ist eine Chance."

Auf dem Stephansdom geht es 67 Meter nach unten. Perfekt, um das Gelernte anzuwenden.
Foto: Florian Koch

Also steige ich den Südturm des Stephansdoms hinauf. Oben erwartet mich keine Holzplanke. Durch Fenster blicke ich über die Dächer Wiens. Unten wuseln die Menschen über den Stephansplatz. Meine Beine zittern. Der Blick hinunter löst die bekannte Angst aus. Nun weiß ich aber, wie ich mit ihr umgehen kann. Ich versuche, mich auf die Tauben zu konzentrieren oder die Votivkirche in der Ferne. Ich atme tief in den Bauch und schaue über die Stadt. Eigentlich ist es hier oben doch ganz schön, denke ich. (Florian Koch, 2.10.2022)