Wie in Inhulka schlagen auch in Mykolajiw täglich russische Raketen ein, wie an diesem Wohngebäude zweifelsfrei zu sehen ist.

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Alla Mironowa, Chefin der Landratsgemeinde Inhulka.

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Eine Schotterstraße, eine Pontonbrücke über den Fluss, eine zweite, dann ein Kontrollposten. In Inhulka nordwestlich der ukrainischen Stadt Mykolajiw sitzen Soldaten vor dem Laden des Orts. Drinnen laufen zwei Frauen hinter der Theke hin und her, machen Kaffee, preisen Wurst an, wiegen Tomaten. "Natalochka, wo sind die Kekse?", brüllt eine dunkelhaarige Dame durch den Raum. Aber "Natalochka", wie sie sich nennt, hat keine Nerven mehr. "Was ist das für ein Leben", sagt sie und reckt sich dann doch hinauf zu einem Regal, um Kekse hervorzukramen. Wie könne ein Leben denn sein, wenn neben einem ständig etwas explodiere und man nicht wisse, ob man am Morgen aufwachen werde.

Inhulka ist das Zentrum einer Landratsgemeinde. 1587 Einwohnerinnen und Einwohner, wie die Ortschefin sagt, eine Schule, ein Kindergarten, ein Arzt, zwei Läden. Und seit März ist hier nichts mehr, wie es einmal war.

Damals kam die russische Armee ins Dorf. Zwei Wochen waren sie da. Und heute, da liegt die Front 20 Kilometer entfernt. Und rund um den Ort schlagen ständig Geschosse ein – während das Leben weitergeht. Irgendwie. Und während am Teich westlich des Orts Fischer fischen, Bauern die Felder bewirtschaften und Natalochka Kaffee macht für die Soldaten, die hier stationiert sind. "Die Männer sind im Krieg, die Kinder sind weg, nur die Alten sind noch da", sagt sie. Und dann, nach einer Pause noch einmal: "Das ist kein Leben."

Einsatz von Streumunition

Inhulka ist ein Nest. Eines von so vielen nahe dieser Front in der Ukraine. Und wie in der nahen Großstadt Mykolajiw schlagen auch in Inhulka Raketen und Artillerie täglich ein. In der Regionshauptstadt wurden zuletzt eine Straßenkreuzung im Zentrum und ein Park getroffen – mit Streumunition. Und als sei ein Sturm über seinen Käseladen hinweggefegt, sagt ein Mann: "Nichts Schlimmes, Schäden kann man reparieren. Wichtig ist, dass wir alle am Leben sind." Vor der Tür kehren Zivilistinnen und Zivilisten die Glasscherben auf.

Mykolajiw ist jene Region in der Ukraine, in der Russlands Krieg erstmals gestoppt wurde. Eine Region, in der sich Moskau einen schnellen Vorstoß erhofft hatte – der in den Vororten von Mykolajiw allerdings zum Stehen kam. Die Region wurde bekannt dafür, dass ukrainische Bauern keine Scheu davor haben, mit ihren Traktoren russische Panzer abzuschleppen. Aber jetzt, da geht die Angst um, dass Russland etwas unternehmen werde nach den inszenierten Abstimmungen ein paar Kilometer weiter und den damit einhergehenden Drohungen aus Moskau.

Aber Nachrichten zu schauen, das erträgt Natalochka nervlich nicht mehr. Und so wirklich reden will sie nicht. Sie habe zu tun, sagt sie. Aber dann sagt sie doch noch: Gekommen seien sie, hätten das Schloss an der Eingangstür zum Geschäft aufgeschossen, den Laden geplündert. An der Stahltür sind noch die Löcher zu sehen. Nichts sei mehr da gewesen. Und dann sagt sie: Nachdem die Russen den Ort verlassen hätten, sei noch der erste Brottransport in den Ort beschossen worden.

Keine Arbeit im Ort

Auf der anderen Seite der Straße sitzt Alla Mironowa in ihrem Büro im ersten Stock. Gerade hat sie unten im Erdgeschoß humanitäre Güter sortiert. Sie ist die Chefin der Landratsgemeinde Inhulka. Da ist der Beschuss, sagt sie. Da sind vor allem aber die Folgen. Jobs gibt es keine. Und hinzu kommen praktische Probleme wie etwa, dass heute nur ein Bus pro Tag nach Mykolajiw fährt – und nicht wie früher jede Stunde einer. Dabei sei Inhulka noch gut davongekommen, im Schnitt. Keine Gefechte im Ort, daher keine großen Schäden, Gas gibt es und Strom nach zwei Monaten auch wieder, nur ein paar Plünderungen, dazu der Umstand, dass die ganze Gegend um den Ort heute vermint sei. Aber so etwas wie in Butscha oder Irpin sei dem Ort wenigstens erspart geblieben. Zwei Männer seien erschossen worden.

Drohungen und Luftalarm

Alla Mironowa erzählt all das mit stoischem Blick, die Augen vor sich auf den Tisch gerichtet. Sie erzählt, wie die Soldaten gekommen seien und das Rathaus nach Waffen durchsucht hätten. Sie erzählt, wie sie die Freilassung von drei gefangen genommenen Männern ausverhandelt hat mit dem russischen Kommandanten. Sie erzählt, wie der sie dann einmal sehr eindeutig ermahnt habe, ihre Haltung zu ändern, weil sonst etwas passieren würde. Sie erzählt, wie derselbe Kommandant sie dann einige Tage später in ein Auto gezwungen und sie aus dem Ort gefahren habe. Schweigen.

Nur als sie sagt, dass sich die Russen eines Tages gegenseitig beschossen hätten, weil sich eine Einheit besoffen und einfach drauflos geballert habe, lässt sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht erahnen. Dann geht der Luftalarm los. Sie hebt langsam das Mobiltelefon, blickt auf das Display, legt die Arme auf den Tisch und erzählt davon, dass es viele nervlich hier nicht mehr ausgehalten und Inhulka verlassen hätten.

Es tut sich etwas

Aber leer ist der Ort keinesfalls. Da geht am anderen Ende der Straße eine Frau mit einem Kind an der Hand. Ein Mann schiebt sein altes Fahrrad mit Einkäufen vorbei. Hunde bellen. Und auch bei Natalochkas Konkurrenz im Ort unten in der staubigen Nebenstraße ist etwas los.

Da zapft ein bulliger Herr mit grauem Bart vier Fünf-Liter-Kanister Trinkwasser und schimpft, wie es nur geht, auf "die Irren" dort drüben. Da steht ein Bursche von 16 Jahren mit einem Laib Brot und will nicht viel sagen. Und auch die Frau mit dem kleinen Kind an der Hand ist schweigsam, nickt wortlos, will nicht reden und geht mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen weiter. An der Tür zum Geschäft, neben einer Tür mit einem Plastikvorhang, hängt eine unmissverständliche Botschaft, gedruckt auf einem zerknitterten A4-Zettel: Kollaborateure sind nicht willkommen. Die sollten sich dorthin schleichen, wo sich das russische Kriegsschiff Moskwa hingeschlichen habe, steht da zum Abschluss. Oder anders gesagt: Geht scheißen.

Angst – und Hoffnung

Drinnen im Laden: Nahrungsmittel, Hygieneprodukte, ein paar Puppen, rosa Haargummis und Stirnlampen, Taschenlampen, Rotlicht, Batterien in allen Größen. Was man so braucht, wenn’s kracht in der Nacht.

Und dann steht da eine Dame um die 50, perfekt gerichtete Haare, dezentes Make-up, Schürze. Ihren Namen nennen, nein, eher nicht, meint sie. Denn die Teilmobilmachung in Russland, die Drohungen – das mache schon Angst, sagt sie. Aber die Ukraine, so sagt sie auch, die sei ein starkes Land. Ein geeintes Land. Und die, die kollaboriert hätten, die seien von einem Tag auf den anderen verschwunden. Wo die nun seien, das wisse sie nicht. (Stefan Schocher aus Inhulka, 2.10.2022)