Der Protest weitet sich auch auf andere Länder aus – wie etwa auf diesem Bild vor dem iranischen Konsulat in Istanbul.

Foto: EPA/SEDAT SUNA

"GRWM to get killed in Iran" ist einer der Sätze, die auch internationalen Tiktok-Usern ins Gesicht springen, wenn sie auf dem vor allem unter jungen Menschen beliebten Social Network nach Inhalten aus dem Iran suchen. "GRWM" ist die Abkürzung für "Get Ready With Me" ("Mach dich bereit mit mir"). Influencerinnen in aller Welt nutzen den Ausdruck, um etwa ihre Fashion-Auswahl für den Trip ins Café oder Fitnesscenter zu illustrieren – in den Videos aus dem Nahen Osten hingegen zeigen die jungen Iranerinnen, in welchem Kleidungsstil sie zu den nächsten Demonstrationen aufbrechen, die zunehmend von Gewalt geprägt sind.

Ein Opfer dieser Zusammenstöße zwischen den Protestierenden und der Sittenpolizei war die 23 Jahre junge Tiktokerin Hadis Najafi. Sie war weder eine politische Aktivistin, noch war sie besonders aktiv im Rahmen der aktuellen Bewegung, wie es in einem Bericht von Sky News heißt – dennoch wurde sie bei Protesten in ihrer Heimatstadt Karaj mit drei Kugeln von der Sittenpolizei erschossen.

Zuvor hatte sie sich auf ihren Instagram-Profil für iranische Verhältnisse vergleichsweise freizügig gegeben, allerdings stets im eigenen privaten Umfeld. Wie viele Menschen der Generation Z nutzte sie das Internet und genoss es, Eindrücke aus ihrem Leben mit ihren Followern zu teilen. Ein Freund bezeichnete sie als "stets glücklich und voller Energie".

Hadis Najafis Ableben facht die Proteste und die Wut noch weiter an, die seit dem Tod der 22-jähirgen Mahsa Amini das Land prägen. Dabei finden die Proteste nicht nur auf den Straßen, sondern auch im Social Web, wo Inhalte unter anderem unter den Hashtags #Mahsaamini, #Freeiran und #Persiantiktok geteilt werden.

Die Schere ist mächtiger als das Schwert

Häufig zeigen sich die Frauen dabei, wie sie vor laufender Kamera ihre Haare abschneiden oder sich gar eine Glatze rasieren. In manchen Videos setzen Männer das gleiche Zeichen, um ihre Solidarität mit den protestierenden Frauen zu zeigen. Andere Tiktokerinnen wiederum betonen, dass sie ihre Haare aus "religiösen Gründen" nicht schneiden möchten, stattdessen kürzen sie symbolisch ihre Hijabs.

Der Sinn dieser Postings: Den Protest vom Inland hinaus in die Welt tragen, um die Menschen mit starken Bildern auf die eigene Situation aufmerksam zu machen. Dass diese Form des digitalen Protests wirkt, ist an den zahlreichen unterstützenden Kommentaren aus dem Ausland ersichtlich. Zudem werden die Videos auch auf anderen Plattformen mit einem älteren Publikum verbreitet, darunter Twitter.

Dort finden sich auch oft Videos, welche die Protestaktionen auf den Straßen, in Schulen und an anderen öffentlichen Orten zeigen. Meist werden in diesen Videos Vertreter des Regimes von unverschleierten, jungen Frauen lautstark ausgebuht. Andere Videos zeigen, wie die Schleier auf offener Straße verbrannt werden.

Wie immer gilt es freilich auch hier, nicht alles zu glauben, was man im Internet sieht. So entdeckte das Faktencheck-Team von AFP zwei Fotos, die als "iranische Pro-Hijab-Proteste" im Netz geteilt wurden, jedoch längst vergangene Ereignisse zeigen. Zwar habe es sehr wohl tausende Teilnehmer an Pro-Regierungs-Protesten gegeben, so die Agentur, bei den besagten Bilder handle es sich aber um Fake-News.

Online trotz Netzsperre

Die iranische Regierung hat im Rahmen der Proteste den Zugang zu unter anderem Whatsapp und Instagram massiv eingeschränkt, die Organisation Netblocks berichtete zuletzt von landesweiten Störung des Internets im Iran. Technisch versiertere Personen versuchen daher, diese Sperren zu umgehen, um weiterhin Zugriff auf die Netzwerke zu haben und ihre Protest auch in die digitale Welt zu tragen.

So heißt es in einem Bericht von "Iran International" etwa, dass die aktuelle Nutzung von VPNs im Iran im Vergleich zum ohnehin schon hohen Niveau vor den Protesten nochmals um 3.000 Prozent angestiegen sei. In westlichen Ländern wird indes dazu aufgerufen, die Browsererweiterung Snowflake zu installieren – mit dieser stellt man der iranischen Bevölkerung Zugangspunkte zum anonymen Netzwerk TOR zur Verfügung. Ein Leser, der das Tool getestet hat, schildert dem STANDARD in einer E-Mail, dass dies in der Praxis gut funktioniert – und dass derzeit tatsächlich die meisten Zugriffe aus dem Iran stammen.

Außerdem lässt auch Elon Musk wieder von sich hören: Er aktivierte Ende September den Satelliten-Breitbanddienst Starlink im Iran. Mit diesem soll der Internetzugang der Bevölkerung trotz bestehender Sanktionen ausgebaut werden. Und schließlich heißt es noch, dass die Hackergruppe Anonymous orchestrierte Cyberangriffe gegen iranische Machthaber und Institutionen plane. Der Cyberkrieg ist also auch im Iran längst angekommen. (Stefan Mey, 5.10.2022)