2022 wurden die Quantenphysiker Alain Aspect, John F. Clauser und Anton Zeilinger mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Foto: Royal Society, John Clauser, ÖAW/DANIEL HINTERRAMSKOGLER

Die Nobelpreisstatistiken zeigen es deutlich: Nicht nur in diesem Jahr ging die Auszeichnung in der Kategorie Physik ausschließlich an Männer, insgesamt waren bisher nur vier Frauen unter mehr als 200 Ausgezeichneten. Marie Skłodowska-Curie war 1903 die Erste, die außerdem als einzige Person zwei naturwissenschaftliche Nobelpreise in unterschiedlichen Kategorien – nämlich außerdem jenen für Chemie 1911 – erhielt. Ihr folgten Maria Goeppert-Mayer (1963), Donna Strickland (2018) und Andrea Ghez (2020).

Dieses Geschlechterverhältnis ist für viele kaum überraschend. Immerhin blicken etliche Forschende zum Zeitpunkt ihrer Nobelpreisverleihung bereits auf eine lange Karriere zurück – und damit auf Zeiten, in denen weniger Frauen studierten und an Universitäten forschten und lehrten. Es braucht also mehr Geduld, bis mehr Frauen mit exzellenten Leistungen dieser Preis verliehen wird, der der Allgemeinheit als höchste Auszeichnung naturwissenschaftlicher Forschung gilt.

Geringer Frauenanteil

Folglich kann sich der magere Frauenanteil von nicht einmal zwei Prozent in der Kategorie Physik nur langsam steigern. Noch immer gibt es in Zentraleuropa und den USA relativ wenige Frauen an Physikfakultäten: In Deutschland machen die Studentinnen und Doktorandinnen des Fachs zehn bis 20 Prozent aus, wie im Rahmen des Projekts Genera (Gender Equality Network in the European Research Area) erhoben wurde. In Osteuropa und auch in Ländern des Mittleren Ostens – etwa im Iran – ist der Anteil oft höher, auch Frankreich kommt auf ein Viertel bis ein Drittel weiblicher Physikstudierender.

Astrophysikerin Andrea Ghez war die vierte Frau, die den Physiknobelpreis erhielt: Gemeinsam mit dem deutschen Physiker Reinhard Genzel wurde sie für die Entdeckung des Schwarzen Lochs in der Mitte der Milchstraße prämiert.
Foto: EPA/MARCIO JOSE SANCHEZ

Dies könne damit zusammenhängen, dass Kinderbetreuung etwa in Frankreich besser ermöglicht wird als in Deutschland und sich ein mangelndes Angebot negativ auf die Physikkarriere auswirken könne, wie in einem Feature-Text im Fachjournal "Nature Reviews Physics" deutlich gemacht wird. Auch sexuelle Belästigung vonseiten des Fakultätspersonals kann eine Rolle spielen, von der mindestens 20 Prozent der Physikstudentinnen betroffen seien. Andererseits hätten in Frankreich Informationsveranstaltungen Wirkung gezeigt, bei denen Forscherinnen Oberstufenklassen besuchen und Mythen rund um Geschlechterstereotype in den Naturwissenschaften widerlegen.

Männliche und weibliche Zitierte

Obwohl aktive Diskriminierung allein deshalb zurückgegangen sein dürfte, weil sie in vielen Fällen rechtlich verfolgt werden kann, gibt es noch immer unterschwellige Tendenzen, die eher Männern zugutekommen. Hinweise darauf liefern Studien wie die am Donnerstag erschienene Arbeit eines Teams um eine:n Physiker:in mit beachtlichem Renommee und fast 40.000 wissenschaftlichen Zitationen, Dani S. Bassett von der University of Pennsylvania. Die Analyse zeigt einen eher kleinen, aber statistisch signifikanten Unterschied bei der Zitierung weiblicher und männlicher Physiker.

Das Team untersuchte in einer Stichprobe von mehr als einer Million Studien aus 35 Physikfachzeitschriften, ob Papers, die unter der Leitung von Frauen (als Erstautorin und/oder als betreuende Letztautorin) publiziert werden, ähnlich oft zitiert werden wie solche, bei denen Männer Erst- und Letztautoren sind. Könnten die Fachleute unterschwellig Studien mit Frauennamen unter den Hauptbeteiligten einen geringeren Wert zuschreiben?

Eine Frage des Namens

In der Auswertung zeigte sich ein "gender citation gap" von etwa 4,2 Prozent. Das bedeutet: Studien, bei denen Männer die wichtige Stelle der Erst- und Letztautorenschaft innehatten, wurden öfter zitiert, als man es statistisch erwarten würde. Papers, die unter der Federführung von Frauen entstanden sind, werden hingegen seltener in anderen Studien erwähnt. Von 1995 bis 2020 stieg der Anteil der von Physikerinnen verfassten oder betreuten Arbeiten von 17 auf 33 Prozent an. Die Neigung, "Männerstudien" eher zu zitieren, blieb seit 2009 allerdings relativ konstant.

Klarerweise gibt es bei diesem Thema Feinheiten, die das Team zu berücksichtigen versuchte. So werden in einzelnen Journals die Autorinnen und Autoren alphabetisch aufgeführt und nicht – wie sonst üblich – mit jener Person, die hauptsächlich beigetragen hat, an erster Stelle und den Betreuenden am Ende der Liste. Auch gibt es gerade im angloamerikanischen Raum einige Vornamen wie "Jean" oder "Taylor", die sich nicht eindeutig einem sozialen Geschlecht zuordnen lassen. Daher recherchierte die Forschungsgruppe einzelne Autorinnen und Autoren und konsultierte zudem Namensstatistiken, ob sie einen Namen in die Kategorie "männlich" oder "weiblich" steckten. Immerhin ging es auch darum, wie andere Personen, die die Studie lasen, den Namen mit hoher Wahrscheinlichkeit interpretierten.

Summierte Effekte

Weitere interessante Erkenntnisse der Analyse: Im Bereich der Allgemeinen Physik war der Bias am größten, ausgeglichener geht es in Nano- und Astrophysik zu. Darüber hinaus ließ sich eine gewisse Präferenz für das gleiche Geschlecht nachweisen, was als "Homophilie" bezeichnet wird. Das heißt im konkreten Fall: Forschungsteams mit Frauen in den "Hauptrollen" zitierten überdurchschnittlich oft andere weiblich geprägte Autorengruppen, unter Männern gibt es einen analog gearteten Trend.

"In der Wissenschaft beeinflusst geschlechtsspezifische Homophilie die Muster von Koautorenschaft und Kollaboration, Zitierungen, Einladungen zu Kolloquien und anderen Vorträgen, Vernetzung, die Nominierung von Nobelpreisträgern und die Auswahl von Gutachtern", schreibt die Forschungsgruppe um Bassett. Auch wenn jemand keine Physikerinnen bewusst benachteiligen möchte, können viele individuelle Taten summiert eine Diskriminierungstendenz hervorrufen.

Daher helfe es, sich solche unterschwelligen Verzerrungseffekte bewusstzumachen, schlägt das Team in Bezug auf Lösungsansätze vor. Dazu können ihrer Ansicht nach Diversitätsstatements beitragen, die besagen, dass sich eine Forschungsgruppe vor der Veröffentlichung einer Studie hinsichtlich dieses Bias Gedanken gemacht und dies bei der Auswahl der Zitationen berücksichtigt hat.

Meta-Wissenschaft

Das Problem mehr oder minder unterschwelliger Benachteiligungen lässt sich zudem intersektional angehen, wenn neben dem Geschlecht Einflussfaktoren wie Rassismus oder Klassismus berücksichtigt werden, merkt das Team an. Freilich lassen diese sich in den meisten Fällen kaum am Namen ablesen, doch ist es beispielsweise für Akademikerkinder noch immer einfacher, eine Laufbahn in den Wissenschaften einzuschlagen.

Denn die Arbeit und die generelle Thematik regt zu grundlegenden Fragen der Wissenschaft und Gesellschaft an: Wie viel Wert sollte der Maßzahl zukommen, wie oft Forschende von anderen zitiert wurden? Welche Alternativen gibt es dazu? Welche Folgen hat es, wenn Frauen etwa dazu angehalten werden, mehr Papers zu veröffentlichen – kann dies die Qualität und Zeit beeinträchtigen, die sie einzelnen Projekten widmen, oder kann es ihnen langfristig mehr Autorität verschaffen und Bias abschwächen?

Antiquierter Geniekult?

In einem aktuellen Beitrag in der "Zeit" wundert sich Stefan Schmitt außerdem, ob der Nobelpreis nicht nur angesichts seiner pompös-royalen Verleihung ein altmodisches Wissenschaftsbild vermittelt. Einerseits werden vor allem weiße Männer ausgezeichnet, Frauen schneiden statistisch wesentlich schlechter ab als bei anderen renommierten Forschungspreisen. Andererseits gibt es die – nicht in Alfred Nobels Testament, sondern später in den Statuten der Nobelstiftung festgelegte – Begrenzung auf maximal drei Personen, die sich einen Preis teilen.

In Zeiten großer Forschungsteams, die hinter einer Leistung stehen, spielt oft eine gewisse Willkür – oder eben Präferenzen der entscheidenden Komitee-Mitglieder – eine Rolle. Schmitt kritisiert den Geniekult, der so gefördert werde. Zugleich lässt sich jedoch argumentieren, dass auch unter Forschenden eine gewisse Prominenz bei der Vermittlung von Wissen helfen kann. Einzelne Persönlichkeiten sind oft in der Lage, wissenschaftliche Disziplinen und Erkenntnisse greifbar zu machen – und nicht zuletzt haben sie eine Vorbildwirkung für junge Generationen. Eines entsprechenden Einflusses dürften sich auch Gremien wie die Nobelpreiskomitees bewusst sein. (Julia Sica, 6.10.2022)