Annie Ernaux in den 1970er-Jahren – ein Ausschnitt aus "Les années Super 8", in dem sie über Familienbilder reflektiert.

Foto: Les films pélleas

Werbungen, Zeitschriften, Artikel, eigene Notizen. Annie Ernaux’ Bücher stützen sich auf mannigfaltige Quellen, um den meist aus Erinnerungen gespeisten Geschichten schärfere Konturen, einen zeithistorischen Rahmen zu verleihen.

Die frischgebackene französische Literaturnobelpreisträgerin ist eine Archäologin des eigenen Lebens. Familienfilme passen gut in ihr Beuteschema, halten diese doch das fest, was "nicht zweimal passiert" – Geburtstage, Reisen, die erste Skiabfahrt, ein neues Zuhause. Auf dem Filmfestival von Cannes im vergangenen Mai hat Ernaux den gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot realisierten Film Les années Super 8 präsentiert. Er nimmt Filmaufnahmen der Familie zum Ausgangspunkt eines Essays – ein richtiger "Annie Ernaux" in einem neuen Format.

STANDARD: Am Ende Ihres Films sagen Sie, Sie seien "die Wächterin des Materials" gewesen. Was hat das Wiedersehen ausgelöst?

Ernaux: Eigentlich gar kein bestimmtes Gefühl. Doch der Eindruck, dass diese Zeit so weit zurückliegt, war enorm. Damit war auch die Distanz sofort da, und die Unterschiede zur Gegenwart. Ich konnte nicht nur die eigene Familiengeschichte besser sehen, sondern auch die Frau, die ich damals war. Die Distanz brachte zugleich eine Sehnsucht hervor, in die Bilder einzutauchen, um eine Geschichte daraus zu formen.

STANDARD: Wie entstand dieser Kommentartext? Anders als in Ihren Büchern mussten Sie sich ja an eine spezifische Vorgabe halten.

Ernaux: Das war die große Herausforderung. Ich konnte die Form dieser Bilder ja nicht erfinden, sondern musste einer Ordnung folgen. Zugleich geht es wie bei anderen Texten von mir auch darum, dass man nicht an den Quellen haften bleibt, damit man nicht dieselben Dinge wiederholt; es geht immer darum, dem Material eine neue Bedeutung zu verleihen, ihm zu ermöglichen, andere Ideen zu projizieren. Super-8-Aufnahmen haben freilich einem Reichtum, den ich sonst nicht gewohnt bin.

STANDARD:Dennoch könnte man sagen, dass es Verbindungen zu Ihren Romanen, etwa der Frage der Selbstbestimmung von "Die Jahre" gibt.

Ernaux: Es war tatsächlich nicht weit von Die Jahre entfernt. In dem Buch beschreibe ich sogar diesen Moment, in dem die Kamera in meiner Familie auftaucht. Man kann jetzt auf den Bildern sehen, wie ich mit den Einkäufen und den Kindern ankomme. Aber es war diesmal auch ein anderes Schreiben, eines entlang der Bilder. Das war eine neue Erfahrung, die mir geholfen hat, das Intime mit dem Allgemeinen zu verschränken.

STANDARD: Hat das auch eine andere Form desErinnerns provoziert – auch innerhalb der Familie?

Ernaux: Meine Erinnerung ist wahrscheinlich die wahrhaftigste, was das Verhältnis zu den Aufnahmen anbelangt. Bei meinen zwei Söhnen, die noch Kinder und Teenager waren, ist diese ja begrenzt. Für sie triggert der Film wohl erst Erinnerungen. Die Idee war, Erinnerungen an mein eigenes Ich zu rekonstruieren. Am Familientisch mit Eric und David haben wir über diese Perioden unseres Lebens diskutiert. Wir erinnern uns nicht immer an dasselbe.

STANDARD: Gab es Fragen, die unbeantwortet blieben? Ihr Mann hat ja meistens die Kamera geführt. Nun überschreiben Sie seinen Blick.

Ernaux:Ich wollte auch die Bilder hinterfragen. Das Festhalten von glücklichen Momenten ist ja etwas sehr Selbstverständliches. Ich bin überzeugt, dass es diesen Wunsch gibt, mit dem Bild die Familienfiktion zu konstruieren. Was wollte mein Mann mit dem Filmen erreichen? Er stärkt die Familienfiktion. Als die Familienbindung schwächer wird, filmt er auch mich weniger.

STANDARD: Viele der Aufnahmen zeigen Sie auf Reisen. Sie sagen, Sie wären nicht "dumm am Strand gelegen". Man sieht sie als Paar in Chile, kurz nach der Wahl von Salvador Allende.

Ernaux: In Chile gab es dieses klare Gefühl, dass dort etwas sehr Wichtiges geschieht. Wir fuhren auf die andere Seite der Welt, die Reise wurde von einer linken Zeitung organisiert. Wir waren nicht sicher, ob wir Allende sehen würden, aber wir wussten, dass wir die sozialistische Verwandlung eines Landes betrachten konnten, das bisher von der Rechten regiert wurde. Wir hatten das dringende Bedürfnis, dorthin zu reisen.

STANDARD: Hat das Politische insgesamt sublim den Alltag der Familie mitbestimmt?

Ernaux: Es gab tatsächlich einen großen Unterschied in unserer sozialen Ordnung. Mein Mann entstammte der Bourgeoisie, er hatte einen wichtigen Status aufgrund seiner Arbeit. Wir hatten nicht die gleichen politischen Ansichten, allerdings hat er sich genau in der Periode des Films begonnen weiterzuentwickeln – intellektuell und politisch; mehr in die Richtung des Sozialisten Pierre Mendès France.

STANDARD: Dennoch scheiterte die Ehe justament in dem Moment, als Mitterrand an die Macht kommt, wie Sie sagen.

Ernaux: Das ist ein Faktum. Politisch ging es in eine Richtung, die wir anstrebten, aber zugleich hielt das Familienmodell nicht mehr stand. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Freiheit, die schon mit 1968 gekommen war, die Familieneinheit veränderte – und sie deshalb irgendwann zerbrechen musste. (Dominik Kamalzadeh, 7.10.2022)