Österreich hat bis August 57.000 Asylanträge verzeichnet, das sind um 195 Prozent mehr als im Vorjahr.

Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

Berlin/Wien – Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) beklagt einen massiven Anstieg der Migration in Österreich und kritisiert in diesem Zusammenhang die EU-Kommission in scharfer Form. "Ich erwarte, dass die EU-Kommission in die Gänge kommt, denn immer mehr Mitgliedsländer sind unzufrieden", sagte Nehammer in einem Interview mit der deutschen Zeitung "Welt" vom Dienstag.

"Warum kümmert sich die Kommission als Hüterin der Verträge nicht endlich darum, dass EU-Recht andauernd gebrochen wird, wenn in einem Binnenland wie Österreich so viele irreguläre Migranten ankommen, die zuvor durch mehrere EU-Länder und sichere Drittstaaten gezogen sind, ohne angehalten worden zu sein?", fragte Nehammer. Die EU-Kommission habe "die löcherigen Außengrenzen leider in den vergangenen Jahren außer Acht gelassen".

"Das Maß ist voll in Österreich"

Nehammer weiter: "Die EU-Grenzschutzagentur Frontex muss ebenso in die Pflicht genommen werden, um endlich die EU-Außengrenze effektiv zu schützen und ein Schutzwall für die Mitgliedsstaaten und gegen Schlepperkriminalität zu sein." Außerdem müsse die EU-Kommission dafür sorgen, dass die Heimatländer illegale Migranten schnellstmöglich zurücknehmen, und diesen Staaten entsprechende Anreize geben.

Nach den Worten des Kanzlers verzeichnete Österreich zwischen Anfang Jänner und Ende August nahezu 57.000 Asylanträge – ein Plus von 195 Prozent gegenüber dem Vorjahr. "Und die Zahlen werden weiter steigen. Hinzu kommen noch etwa 85.000 Ukrainer und Ukrainerinnen, denen wir Schutz gewähren und die wir versorgen. Das Maß ist voll in Österreich", so Nehammer.

Der für Migration zuständige Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas betonte am Montag nach einem Treffen mit Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) in Wien: "Kein Staat kann Migration alleine bewältigen." Man müsse als "Team Europa" zusammenarbeiten. Er habe Karner über seine jüngste Balkanreise informiert, da die steigende Zahl von Ankünften Österreich unter Druck setze, so Schinas. Eine Sprecherin der EU-Kommission sagte am Dienstag, man sei sich der Herausforderungen Österreichs bewusst. Das Thema stehe auch beim EU-Innenministerrat am Freitag zur Diskussion.

Deutschland verlängert Grenzkontrollen

Unterdessen verlängert Deutschland angesichts zunehmender Migration über die sogenannte Balkanroute die Kontrollen an der Grenze zu Österreich. Zugleich sei die Schleierfahndung im deutsch-tschechischen Grenzgebiet verstärkt worden, sagte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser nach einem Treffen mit Vertretern von Ländern und Kommunen am Dienstag. Österreich und Tschechien hätten zudem zugesagt, Kontrollen an der Grenze zur Slowakei einzuführen. Es kämen über das Mittelmeer und die Balkanroute wieder "deutlich mehr Menschen nach Europa, und das macht mir Sorge", sagte Faeser.

Es sei wichtig, für eine Begrenzung zu sorgen. Deshalb würden die Kontrollen an der Grenze zu Österreich über den November hinaus für ein weiteres halbes Jahr verlängert. "Wir handeln hier in sehr enger Zusammenarbeit." Faeser kritisierte zudem die Visa-Bestimmungen in Serbien und bezeichnete diese als "inakzeptabel". Serbien müsse seine Visa-Regelungen an die der Europäischen Union anpassen.

Kritik von SPÖ, FPÖ und Neos

FPÖ-Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer sagte, die Aussagen Nehammers seien in Wahrheit eine krachende Selbstanklage. "Wer hat Nehammer, Karner und Co denn eigentlich daran gehindert, endlich zu reagieren und das magnetisch für illegale Einwanderer wirkende 'Welcome-Service' durch einen konsequenten Grenzschutz zu ersetzen? Sich jetzt auf die EU herausreden zu wollen ist eine Flucht vor der eigenen Verantwortung und untermalt das Totalversagen sowie die gebrochenen Versprechen an die eigenen Wähler", kritisierte Amesbauer.

Auch die SPÖ sieht die Versäumnisse bei Nehammer und der ÖVP. "Nehammer glaubt, er kann die eigene Verantwortung einfach auf die EU abschieben, und tut so, als hätte die ÖVP nicht seit 20 Jahren das Innenministerium in der Hand und als würde sie nicht jede EU-Lösung im Asylbereich verhindern", kritisierte SPÖ-Sicherheitssprecher Reinhold Einwallner. Der Löwenanteil an Asylsuchenden komme über die ungarische Grenze. "Aber mit (Regierungschef Viktor, Anmerkung) Orbán trifft sich Nehammer zum Selfiesmachen, der EU-Kommission wirft er Versäumnisse vor."

Ähnlich auch die Kritik der Neos: "Faktum ist, dass Österreich leider zu jenen Ländern gehört, die schon seit geraumer Zeit nicht aktiv daran mitwirken, dass wir endlich zu einer europäischen Lösung kommen", sagte Neos-Generalsekretär Douglas Hoyos. Er forderte einen effektiven Schutz der Außengrenzen, rasche Verfahren, Resettlement-Programme und die rasche Rückführung jener, die ohne Asylgrund kein Asyl bekommen. "Der Kanzler sollte seine Kritik also lieber an die eigene Partei richten – die ist seit 35 Jahren in Regierungsverantwortung."

Nehammer will EU-weite Gaspreisbremse

Zudem übte der Bundeskanzler angesichts der steigenden Energiepreise Kritik an nationalen Alleingängen bei der sogenannten Gaspreisbremse. "Aber diese Gaspreisbremse kann nur europäisch organisiert sein. Nationale Alleingänge verbieten sich, auch weil das die Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt verzerren kann", sagte Nehammer der "Welt".

"Die EU muss gemeinsam einen bestimmten Preis für Gas, das für die Stromerzeugung verwendet wird, schultern und diesen an die Verbraucher weitergeben", so Nehammer. "Nur so können endlich die hohen Gaspreise von den Strompreisen entkoppelt werden. Natürlich müssten für das Gas Marktpreise bezahlt werden, sonst erhielte die EU ja kein Gas." Die Differenz zwischen dem marktüblichen Kaufpreis und dem Preis für die Verbraucher müsste dabei von der öffentlichen Hand getragen werden. (APA, red, 11.10.2022)