Im Gastblog interpretiert der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Timo Storck die neunte Folge der Prequel-Serie zu "Game of Thrones".

Wissen wir, was wir begehren? Wann denken wir nur, dass wir es wissen? Wann denken wir, den Wünschen von jemand anderem zu folgen, obwohl es eigentlich unsere eigenen sind, die wir uns nur nicht eingestehen?

Das Begehren des Anderen

In einem Kommentar zu einer vorangegangenen Folge bin ich auf den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan eingegangen. Von ihm stammt die Denkfigur: "Das Begehren ist das Begehren des Anderen". Das ist mehrdeutig. Einerseits kann gemeint sein, dass unser Begehren immer ein Objekt beziehungsweise einen Gegenstand hat. Wir begehren nicht so vor uns hin, sondern wir begehren jemanden oder etwas. Andererseits kann aber auch gemeint sein, dass das jeweils vermeintlich eigene Begehren eigentlich vom anderen her kommt, durch diesen hervorgerufen wird. Es wäre dann nicht unser eigenes, wir würden es nur dafür halten. Und: Manchmal scheint es auch nur vom anderen her zu kommen.

Was wer begehrt und wie das jemanden dazu bringt, auf eine bestimmte Weise zu handeln, aber auch, wessen Begehren es eigentlich ist, nach dem sich jemand ausrichtet, kann als Schlüssel für eine Interpretation der neunten und damit vorletzten Folge von "House of the Dragon" werden.

Wie viel eigenes Begehren ist in Alicents Handeln zu erkennen?
Foto: Sky/HBO

Alicent ist immer noch im Wonderland. Sie ist der festen Überzeugung, Viserys habe auf dem Sterbebett den Wunsch geäußert, sein Enkel Aegon solle ihm nachfolgen. Da liegt sie falsch, wir haben Grund anzunehmen, dass er sich in seinen, zumal ziemlich wirren Bemerkungen auf den Traum von Aegon I. (dem Eroberer) bezogen hat, der sich auf die Prinz-Person (im Valyrischen ist "Prinz" offenbar geschlechtlich nicht eindeutig) als Einiger des Reiches bezieht. Viserys hat Rhaenyra als diese Person gesehen.

Und da sind wir mittendrin im Begehren, das vom anderen her kommt beziehungsweise eben genau umgekehrt: das eigene Begehren, das erlebt wird, als wäre es der Wunsch des anderen. Alicent meint, den letzten Wunsch ihres Ehemanns zu erfüllen, indem sie den gemeinsamen Sohn Aegon (II.) als König installieren will. Ich habe schon einige Male den Gedanken vorgestellt, dass Alicent oft (vor sich selbst) den Anschein zu erwecken scheint, dass etwas nicht ihr Wille beziehungsweise Wunsch sei: der Tod von Harwin und Lyonel Strong zum Beispiel. Oder eben die Änderung der vorgesehenen Thronfolge von Rhaenyra zu Aegon. Sie lässt meist andere die Drecksarbeit des Wollens machen – so wie wenn man Kinder, deren Zähne und Nägel man spitz gefeilt hat, in den tiefsten Tiefen der Stadt Kämpfe gegeneinander austragen lässt.

Kinder, in den Ring geworfen

Diese Kämpfe werden von Aegon frequentiert, es ist offen, ob er "nur" auf den Ausgang wettet oder auch eigene "Kämpfer" in den Ring schickt. Es ist ein passendes Bild für das, was gerade in Westeros passiert: Kinder führen Stellvertreterkriege, das findet sich in allen der letzten Folgen: Lucerys, der Aemond das Auge nimmt; oder der Streit der "grünen" und der "schwarzen" Kinder beim letzten Mahl von Viserys. Auf eine Weise ist das ein Trauma-Enactment, also eine ins Aktive gewendete Wiederholung in Handlungen dessen, was Aegon selbst passiv erlebt: Jemand präpariert die Kinder, damit sie in einen Kampf ziehen, den sie nicht verstehen oder wollen. Aegon will nicht König sein, er will nicht mit gefeilten Zähnen gegen andere Kinder kämpfen.

Die von mir bereits an anderer Stelle gefeierte Mysaria wird nun als "The White Worm" erkennbar, als zentrale Figur der Informationsverwaltung in King’s Landing – und als Kämpferin für die Kinderrechte, wenn sie Otto abverlangt, die Kinderkämpfe zu beenden. Dieser erwidert, dass er das mal prüfen werde – in der Metaphorik der Kinderkämpfe kann es natürlich nicht beendet werden, Aegons spätere Krönung ist, nun ja, eben die Krönung dessen, dass Kinder in den Kampf geschickt werden.

Aegon muss in den Tiefen der Stadt erst aufgefunden werden. Sowohl Otto als auch Alicent senden Leute aus, um ihn zu suchen. Der Hintergrund liegt darin, was der Folgentitel benennt: "The green counsil" tritt nach Viserys‘ Tod zusammen, also die Versammlung derjenigen, die Haus Hightower und der Thronbesteigung durch Aegon treu sind. Otto hat das hinter Alicents Rücken schon vorbereitet und äußert nun, dass Rhaenyra, Daemon und deren Kinder getötet werden müssen, damit Aegons Herrschaft gesichert sei. Alicent ist wieder einmal geschockt davon, welche Konsequenzen das hat, was sie als Erfüllung der Wünsche anderer erlebt. Ach so, und Criston Cole zeigt sich erneut von seiner gewaltbereiten Seite, wenn er in einem Al-Capone-Move Lyman Beesburys Schädel am Tisch zerschlägt, als dieser vorsichtig andeutet, dass a) Viserys 20 Jahre lang Rhaenyra als Nachfolgerin gesehen hat, b) niemand außer der zukünftigen Königsmutter von seinem neuen Wunsch etwas gehört hat, und c) niemand weiß, ob Viserys am Ende wirklich eines natürlichen Todes gestorben ist.

Loyalitäten und Fragen der Instrumentalisierung

Alicent will Rhaenyra Bedingungen nennen. Das will Otto auch, aber seine Bedingung ist: Knie vor König Aegon nieder oder stirb. Und natürlich weiß er, dass sie das Erstgenannte nicht tun wird. Beide schicken also jemanden aus, um Aegon zu finden, eine Krönungsentführung. Otto schickt die beiden Zwillingsbrüder Erryck und Arryck (das ist kein Witz), Alicent schickt Criston und Aemond. Irgendwie ist (mir?) nicht so ganz klar, warum es diesen Wettlauf um die Aegonfindung gibt – beide Parteien wollen an dieser Stelle doch dasselbe, nämlich seine baldige Krönung.

Wer das nicht will, ist Rhaenys, die sich noch in King’s Landing befindet. Sie wird umgehend unter Hausarrest gestellt, da sie – getötete Kinder hin, Bastarderben her – als loyal zu Rhaenyra angesehen wird. Wieder einmal vertritt Rhaenys den Blick auf die Rolle der Frau im Spiel um den Thron. Sie möchte Alicent aufzeigen, dass sie sich von den Männern instrumentalisieren lässt oder im Sinne dessen handelt, was die Männer wollen und was diesen nützt. Aber aufgepasst, Rhaenys de Beauvoir: Am Ende passieren sehr wohl die Dinge, die Alicent will und die ihr nützen: Sie ist nun Königinmutter. Und auch wenn sie 100 Mal friedfertig gegenüber ihrer Kindheitsfreundin sein möchte, so ist es doch sie, die das dreiviertelsedierte Gestammel ihres sterbenden Mannes, der Namen nennt, wie es sie zu Tausenden gibt, in genau der Richtung hört, die ihr nützt. Niemand flüstert ihr hier ein, was sie sich einflüstern lassen soll. Das Begehren des anderen ist ihr Begehren.

Schwellfuß, Langstrumpf

Oh je, aber: Alicent, das Begehren und der andere – ich hatte es ja befürchtet: Larys Strong wird psychologisiert. Schade. Auch er bewegt sich Alicent gegenüber weiterhin zwischen Einflüsterung und Spiegelung ihrer Wünsche, nun im Hinblick auf Mysaria. Aber es braucht nun wirklich niemand die Großaufnahmen seines verkrüppelten Fußes und der nackten Füße Alicents und die damit verbundene Erklärung, dass aus seinem Fußproblem ein Fußfetisch entstanden ist. Fehlt nur noch die Erklärung, dass sein Vater ihn als Kind mit zusammengebundenen Füßen im Wald ausgesetzt hat, weil er einer Prophezeiung Glauben schenkt, die besagt, dass er einmal von seinem Sohn getötet werde, und die sich dann bewahrheitet, ohne dass der Sohn erkennt, dass es sein Vater ist, den er getötet hat, und der Sohn dann ebenso unerkannt seine eigene Mutter heiratet und sich später bei der Erkenntnis darüber selbst blendet und im hohen Alter auf Kolonos stirbt – man kennt die Geschichten ja.

Dass Larys sich dann auch noch selbst befriedigt, geschenkt. Manche Figuren bleiben spannender und stärker, wenn man nicht erkennt oder erklärt bekommt, wer sie sind, was ihr Hintergrund ist und was ihre Motive. Erinnert sich jemand an Ben, den Anführer der anderen (da sind sie wieder, mit ihrem Begehren!) in "Lost"? Der war auch spannender, solange man nichts über ihn wusste und alle ihn noch Henry Gale genannt haben. Schade jedenfalls um Larys. Seine Funktion als Einflüsterer bleibt. Nur: Alicent, die langen unbestrumpften Beine penetrant drapierend, spielt ihrerseits unwissentlich sehr viel mehr mit dem Begehren der anderen, als es den Anschein hatte. Sie macht sich die Welt eben auch, wie sie ihr gefällt. Nur eben unbewusst.

Einflüstern oder anhauchen?

Also: Was will Alicent? Genau das, was passiert, und sich weiter abzeichnet. Ob sie es anerkennen will oder nicht: Sie ist es, die Kinder mit spitz zugefeilten Zähnen in den Kampf schickt. Denn wieder hören wir Sätze wie "As you wish" oder "If you wish it", die andere zu Alicent sagen. Als dann interessanterweise Aegon sie unmittelbar vor seiner Krönung fragt, ob sie ihn liebe, antwortet sie: "You imbecile" (und das geht ja über ein mütterliches "Ach, du Dummkopf" hinaus). Da hat sie recht, aber auch nicht, denn immerhin erkennt mit Aegon endlich mal ein ungeeigneter König seine fehlende Eignung. Und vor allem ist Alicents defensiver Umgang mit der Frage bezeichnend: Dabei geht es weniger darum, dass es nicht leichtfällt, einen Sohn wie Aegon zu lieben, sondern dass Alicent schlicht ihr Begehren, ihre Liebe und ihre Wünsche nicht selbst benennen kann, sondern sie nur als eingeflüstert erlebt, obwohl es doch ihre sind.

Und dann ist da noch "a beast beneath the boards". Das sagt Heleana ihrer Mutter – sie wird immer mehr zur "Log Lady" von "House of the Dragon". Sie sagt kryptische Dinge, und man kann sich nicht so recht von der Erwartung lösen, dass sie etwas weiß, was wir noch nicht wissen. Aber: Ein Biest zwischen den Dielen (?), das kann irgendwie alles und nichts sein.

Ein Beispiel für so ein Biest kann natürlich ein Drache sein. Gegen Ende der Krönungszeremonie (Hochzeiten und Krönungen – immer gefährlich) verleiht Rhaenys drachengestützt ihrem Dissens mit dieser Thronnachfolge Ausdruck. Es bleibt bei einem feuerlosen Anhauchen gegenüber Alicent und Aegon, bevor Rhaenys die Fliege macht und sich wahrscheinlich mit Rhaenyra und Daemon verbündet, die in dieser Woche übrigens frei haben. Next up: Rhaevolution!

Ausblick

Offene Fragen: Lebt Corlys noch? Kann die Verwirrung, die dadurch entsteht, dass eineiige Zwillinge Erryck und Arryck heißen, noch getoppt werden? Wird Mysaria die Leitung des Jugendamts von King’s Landing übernehmen? Sowie insgesamt: Was wird die narrative Ausgangslage für die zweite Staffel werden? (Timo Storck, 18.10.2022)