Wladimir Putin dreht weiter eifrig an der Eskalationsschraube. Am Mittwoch ließ der Kreml-Chef den neunten Tag in Folge zahlreiche ukrainische Orte aus der Luft angreifen. Mehrere Explosionen erschütterten einmal mehr das Zentrum von Kiew, außerdem wurde auch wieder kritische Infrastruktur bombardiert. "Die Lage ist jetzt im ganzen Land kritisch", hieß es aus dem Präsidialamt in Kiew. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, Russland habe binnen einer Woche 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke zerstört. Laut den staatlichen Notfalldiensten waren am Dienstag mehr als 1100 Orte ohne Strom.

Doch auch andernorts intensiviert Putin seine Bemühungen, um das Kriegsgeschehen in der Ukraine wieder zu seinen Gunsten zu wenden. Am Mittwoch verhängte er mittels Dekret das "Kriegsrecht" in den völkerrechtswidrig annektierten Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja. Damit erhalten die Besatzungsverwaltungen ab Donnerstag erweiterte Machtbefugnisse.

Russische Militärfahrzeuge finden sich weiter in der Stadt Cherson – die prorussische Regierung hingegen ist weg.
Foto: Reuters / Alexander Ermochenko

Putin begründete diesen Schritt mit angeblicher "Waffengewalt, die gegen die territoriale Integrität Russlands" angewendet werde. Kiew lehne es ab, die Ergebnisse der im September abgehaltenen Abstimmungen über einen Beitritt zu Russland anzuerkennen. "Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben."

Zensur offiziell erlaubt

Durch die Verhängung des "Kriegsrechts" können etwa die Unternehmen in den betroffenen Regionen zur Arbeit für die Kriegswirtschaft bzw. Bewohner zur Arbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet werden. Auch sind Beschränkungen der Bewegungsfreiheit in Form von Ausgangssperren oder Ein- und Ausreiseverboten möglich. Möglich sind dem Dekret zufolge nun auch offiziell die Einführung von Militärzensur oder das Abhören privater Telefongespräche.

Welche Schritte tatsächlich unter dem Kriegsrecht ergriffen werden sollen, verriet Putin zunächst nicht. Dafür kündigte er an, einen Koordinierungsrat einzurichten, der von Ministerpräsident Michail Mischustin geleitet werden soll. Nicht nur Staatsorgane mit Militärbezug, sondern "das ganze System der Staatsführung" müsse in die "militärische Spezialoperation" eingebunden werden, so der Kreml-Chef.

Verwaltung zurückgezogen

Mit ausschlaggebend für Putins Schritt dürfte auch die Lage in der Region Cherson sein, wo die russischen Besatzer zusehends unter Druck geraten. Dort bereitet man sich auf einen ukrainischen Großangriff vor und ruft die Bevölkerung auf, sich in Sicherheit zu bringen. Auch werden alle Verwaltungsstrukturen in der Stadt Cherson an das linke Flussufer des Dnipro verlegt, sagte der von Russland eingesetzte Verwalter Wolodymyr Saldo. Die russische Armee werde aber "bis zum Tod" kämpfen.

Grafik: DER STANDARD

Die Ukraine wirft Russland hingegen Propaganda vor. "Die Russen versuchen, die Menschen in Cherson mit falschen Newslettern in Angst und Schrecken zu versetzen, wonach unsere Armee die Stadt beschießt, und sie bereiten auch eine Propagandashow mit den Evakuierungen vor", schrieb Andrij Jermak, Chef des ukrainischen Präsidialamtes.

Der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine räumte unterdessen ein, dass die Lage in der Region schwierig sei. Die Situation könne als angespannt bezeichnet werden, sagte Sergej Surowikin dem Sender Rossija 24. "Der Feind greift gezielt Infrastruktur und Wohngebäude an." In den vergangenen Wochen wurden die russischen Truppen um 20 bis 30 Kilometer zurückgedrängt.

EU-Preis für Ukrainer

Fernab des Kriegsgeschehens hat das EU-Parlament die ukrainische Bevölkerung aufgrund ihres Widerstands gegen die russischen Angreifer mit dem Sacharow-Preis für geistige Freiheit ausgezeichnet. Der Preis ist nach dem sowjetischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow benannt. (Kim Son Hoang, 19.10.2022)