Georg Haderer wurde 1973 in Kitzbühel in Tirol geboren. Nach zahlreichen beruflichen Stationen ist er heute als freier Schriftsteller in Wien tätig.
Foto: Petra Schneemann

Denke ich an Kriechmispeln, denke ich an Sisyphos. Mit Anfang 20 war ich für einige Wochen als Hilfsarbeiter bei einer Landschaftsgärtnerei tätig und fasste den Auftrag aus, eine steile Böschung mit diesen knorrigen, immergrünen Bodendeckern zu bepflanzen. Loch stechen, Mispel rein, festklopfen, nächstes Loch, nächste Mispel, auf den Knien weiterrutschen und so weiter. Ist eine Reihe fertig, steht man oben auf, streckt das steife Kreuz durch, blickt auf die verbleibende freie Fläche, wischt sich mit staubigen Händen die Tränen aus dem Gesicht und denkt an den fernen Feierabend – wäre man lieber erfolgreicher Schriftsteller, denkt man vielleicht auch an Albert Camus’ Mythos von Sisyphos und sagt sich: Absurde Schinderei! Wo ist der Sinn darin?

Aber steigen wir erst einmal von dieser vermaledeiten Böschung und den ganz großen Fragen herab und beginnen klein. Hier das womöglich erste Erlebnis, mit dem ich meine Entscheidung, Schriftsteller zu werden, verknüpfe.

Zahnarzt und Lesung

1988, ein Herbst-Nachmittag in meiner Heimatstadt Kitzbühel: Ich war 15 und saß für mehr als drei Stunden in einem Zahnarztstuhl, wo mir erstens alles Amalgam entfernt, zweitens ordentlich nachgebohrt und drittens fünf Goldplomben verpasst wurden – Doktor Sadlo nahm seinen Beruf sehr ernst. Weidwund wie Dustin Hoffman in Der Marathon-Mann – ist das jetzt schon eine verpönte Aneignung? –, in jedem Fall völlig fertig ging ich direkt von dieser Folter zum Bahnhof und setzte mich in den nächsten Zug nach St. Johann.

In der AHS-Oberstufe organisierten wir regelmäßig Lesungen im Café Rainer, und an besagtem Abend trat Norbert Gstrein mit seinem Debüt Einer auf: Jetzt kommen sie und holen Jakob. Tourismusvergiftung, bipolare Saisonstörung, Geilheit, Schmerz, Sehnsucht ... fuck, da saß einer und sprach mich aus, gab meinem Leben eine Form!

Vorbild Norbert Gstrein

Mein Gott, Norbert – damals hätte ich das Komma auch weggelassen –, was verdanke ich dir, und woran bist du schuldig geworden. Zwar gab mir die Literatur eine oft trostreiche Ersatzheimat, mehr als jede andere Arbeit je imstande gewesen wäre, doch je mehr ich von Bachmann, Miller, Kafka, Haushofer, Kerouac, Djian etc. ergriffen wurde, desto stärker wurde auch die Berufung, der Drang, selbst Schriftsteller zu werden.

Es sind frostige und lange Lehrjahre, die so einer Entscheidung zumeist folgen, siehe John Fante, Jack London, Charles Bukowski und andere Trinker, die die eigene Trinkerei rechtfertigen. Und vor allem ist es eine sehr einsame Lehre. Ganz anders die Schuhmacherlehre, für die ich mich mit Anfang 20 entschied, nachdem drei sinnlose Studienjahre mich fast zur Kopie der Figur in Thomas Bernhards Erzählung über den Innsbrucker Kaufmannssohn namens Georg gemacht hatten.

Handwerk als Dichtkunst

Aber weg vom ausweichenden Vergleich und hin zur schmerzhaften Wirklichkeit: Nach einem traumatischen Erlebnis, bei dem mein sechsjähriger Bruder zu Tode kam, hatte ich jeden Glauben, jeden Sinn, irgendwie alles verloren. Der Wunsch nach einer handwerklichen Tätigkeit – in küchenpsychoanalytischer Manier könnte ich ja Meister Eder aufrufen, als in sich ruhenden Schöpfer, samt einem kindischen Hausgeist, der als Platzhalter für das Es oder Unter-Ich herhalten mag – als Sehnsucht nach Sinn in einer ganz konkreten Schöpfung, in meinem Fall: wie das Leder über den Leisten gespannt wird, vernagelt, vernäht und ausgeballt, in Form gebracht und ausgeputzt, aus den eigenen Händen, in die der Schusterdraht die ersten Wochen noch schmerzhafte Blasen scheuert, ein fertiges Werk, das dem Schöpfer zum Stolz gereicht.

Ja, so wollen es Servus TV und ähnliche Formate uns verkaufen, und es gibt sie zweifellos, die Erfüllung über die Sinnfindung in Material und quasipoetischer Werktätigkeit – im antiken Griechenland fielen die Handwerke noch unter den Begriff Poiesis, wie die Dichtkunst; sich durch Auseinandersetzung mit einem Gegenstand eine Wirklichkeit zu schaffen.

2009 erschien der erste Roman des Autors. "Schäfers Qualen" folgten bislang sechs weitere. Außerdem unterrichtet er an einer Volksschule.
Foto: Petra Schneemann

Auf nach Babylon

Doch die Werkstatt in Kitzbühel, Ö3-Wecker und Radio Tirol, die Fußstapfen meines Vaters, meine nichterkannte Depression, das wollte meine Wirklichkeit nicht sein – die hielt ich nur durch die Zufuhr von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen aus. Frieden fand ich in den Lücken – wenn ich mich nach der Berufsschule in Innsbruck stundenlang in Buchhandlungen aufhielt, dann im Zug zurück in Josef Winklers Trilogie verfiel, wir Komplizen und Leidensgenossen. Die Gesellenprüfung machte ich noch, dann entzog ich mich – oder, um den erfolglosen Detektiv des damals hochverehrten Richard Brautigan zu zitieren: Ich schiffte mich unverzüglich nach Babylon ein. In meinem Fall: Südamerika. Patagonien.

Am Ende der Welt glaubte ich wohl, der Absurdität meiner Existenz Herr werden zu können. Für Kost und Logis auf einem Bauernhof arbeiten, Äpfel ernten, Schweine füttern, am Abend Trakl und Rilke lesen, kein Geld für Kokain, dafür peinlich pathetische Lyrik und die Frage, was mich noch am Leben hielt. Manchmal: eine gelungene Zeile, ein Vers, der Resonanz in meiner Seele fand. Sie konnten damals und später der Kiesel sein, den ich nur zu gerne den Berg hinaufrollen wollte, wenn dafür oben ein schöner Stein lag.

Skilehrer, Redakteur und Marketer

Doch auf den Kitzbüheler Grasbergen stehen viel lieber profanere Werke: Skihütten, Gipfelkreuze, Seilbahnen. In diese Wirtschaft habe ich mich auch für einige Jahre verloren: als Skilehrer, den in den Gondeln bei windigem Wetter Panikattacken quälten, sodass ich meist völlig unfähig war, auch nur die einfachsten didaktischen Anweisungen zu geben; als Barmann, voll und voller Klischees. Über einen Redaktionsjob bei einer Monatszeitung landete ich schließlich in der Werbung. Man raubt der Literatur die Alliterationen, die Metaphern, die Oxymorone und andere Sinnfiguren und wirft sie der Familie Putz zum Fraß vor. Man weiß, dass man Scheiße macht, und verdrängt, indem man sich den Stil in Form von teurem Pinot Noir aus dem Burgund zurückkauft.

Und zum Drüberstreuen noch eine schnöde Metapher: Im Abgang liegt auch Untergang, nach zehn Jahren in der Werbung war ich zynisch, süchtig und schaffte es irgendwie, mich "ins Erzählen zu retten". Ich schrieb sechs Kriminalromane um die Figur des Majors Schäfer und hatte Erfolg damit. Endlich hatte ich den Sinn gefunden. Wirklich? Nein. Ich rollte den Satz, den Stein nicht achtsam, demütig und dankbar den Berg hinauf, ich wuchtete und warf ihn, ich hielt nicht inne, warf mich hinunter, stürzte wieder hinauf, jedes Jahr ein Buch, dazwischen selbstständiger Texter für Dinge, unter die ich nie meinen Namen setzen würde. Von außen betrachtend mochte wohl mancher, frei nach Camus, gemeint haben: Man muss sich Haderer als glücklichen Menschen vorstellen. Aber meine Therapeutin, mein Psychiater und die eingelösten Rezepte sprachen eine andere Sprache. Ich musste mit der Werbung aufhören.

"Seht ihr es nicht?" Kriminalroman. € 24,90, 336 Seiten, Haymon Verlag.
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Sisyphos und die Verzweiflung

Ich verzweifelte. Und lief den Berg weiter hinauf, ohne einen Stein als sinnstiftenden Begleiter zu haben. Oben Leere, unten Leere, so brennt man aus. Ein Symptom der Depression ist es, sich voll Reue und Selbstvorwürfen der Vergangenheit zuzuwenden: Warum habe ich nichts Gescheites studiert, gelernt, mir nicht ein zweites sicheres Standbein verschafft, der Teilzeit-Orthopäde, der auf der Holzterrasse am Attersee schöne Erzählungen schreibt. Die Zukunft dagegen: ein Sehnen und Flehen, das den Sinn in möglichst monotonen und anforderungsfreien Tätigkeiten sucht. Bei der MA 48 werden sie mich doch nehmen; die Illusion vom genügsamen Straßenkehrer, vom Baumschneider, der einsam, aber frei über Dehnepark und Wolfersberg zu den Steinhofgründen zieht und im Einklang mit der Natur sein Werk verrichtet.

Ich habe mich in einer tiefen Phase der Verzweiflung als Ferienvertretung bei der Post beworben. Vergeblich. Was mich daran erinnerte, dass einer meiner schlimmsten Jobs der eines Prospektausträgers in Innsbruck war: Mist verteilen, beschimpft werden und 180 Schilling pro Tag dafür bekommen. Verwundert es, dass Künstler mit ähnlichen Erfahrungen neben Camus auch das Buch Hiob neben der Matratze liegen haben? Aber wir lernen, "mit dem Unglück zu leben wie ein Hund mit seinen Flöhen", wie Philippe Djian meint, der seinen Kultroman Betty Blue auf einer Reiseschreibmaschine schrieb, die auf seinen Knien stand, während er selbst in einem engen Glaskobel einer Autobahn-Mautstelle in Nordfrankreich Nachtschichten schob.

Einen Sinn kann man diesen sinnlos erscheinenden Arbeiten und Schindereien aber auch abseits einer existenzphilosophischen Betrachtung geben: Sie öffnen einem die Augen für einige Härten des Lebens, sie lassen uns hoffentlich nicht mehr abwertend auf die schauen, die ihr Leben lang in solchen Routinen und Plackereien gefangen sind. Wir müssen sie nicht pseudoliterarisch zum glücklichen Sisyphos erhöhen, noch als selbstverschuldete Existenzen abwerten. Mitgefühl ist ein guter Sinn. (RONDO exklusiv, Georg Haderer, 25.12.2022)