Mit 23 Küchenchef zu werden war die dümmste Idee, denn ich konnte null kochen", sagt Tim Raue über seine beruflichen Anfänge. Ganz Berliner Schnauze ist er bekannt für seine direkte und unverblümte Art. Heute, mit 48, leitet Raue zehn Restaurants, mit seinem nach ihm benannten Lokal rangiert er im Ranking "World’s 50 Best" auf Platz 26 der besten Restaurants der Welt. Als einzigem deutschem Starkoch widmete man Raue eine Folge der Netflix-Show Chef’s Table. Kochen hat Raue also gelernt. Aber erst mit der Zeit.

Harte Anfänge

Seinen Job sieht Tim Raue im Rückblick als arrangierte Ehe, aus der mehr als Liebe geworden ist.
Foto: Jörg Lehmann

Zunächst landete Raue im Berliner Luxusviertel Grunewald im Chalet Suisse, einer, wie er es salopp nennt, "Ausflugsbutze". Die prestigeträchtigen Ausbildungsplätze in Hotels blieben ihm durch seine Herkunft aus Berlin-Kreuzberg und sein schlechtes Zeugnis verwehrt. Die Jahre dort beschreibt er als "ultrahart": "Der Chef war ein Riesenarschloch, er hat uns Doppelschichten machen lassen. Nach acht Stunden wurde ausgestempelt und dann noch mal acht Stunden gearbeitet."

Raues Küche ist asiatisch inspiriert wie hier das Wasabi-Kaisergranat mit Reisflakes auf Mango-Gel.
Foto: Jörg Lehmann

Kreatives Kochen eignete sich Raue im Lokal, in dem "jede Woche drei Köche angefangen und wieder aufgehört haben", aber nicht an. Er schnitt vor allem Baguettes in Scheiben, Zwiebeln klein und kochte literweise Eintöpfe ein. Für den Azubi vielleicht nicht das Allerschlechteste: "Ich hatte definitiv kein Talent fürs Kochen." Während seine Kollegen ein natürliches Gefühl fürs Kochen besaßen, musste er sich das erst hart erarbeiten. Dass er die anstrengenden Jahre durchgehalten und sich nach oben gearbeitet hat, schreibt er seinem überbordenden Ehrgeiz zu. Während seiner Ausbildung merkte er am ersten Tag, dass Kochen etwas für ihn sei. "Dort herrschte Stress, Schreien, Treten, Hass, Aggressionen. Das kannte ich ja aus meiner Jugend, damit bin ich gut klargekommen."

Heute lebt Tim Raue seine Kreativität nicht nur in der Küche, sondern auch beim Porzellan- oder Schuhdesign aus.
Foto: Nils Hasenau

Gewalt in der Kindheit

Raue wuchs bei getrennten Eltern auf. Zunächst bei seinem Vater, der ihn im Alter von neun bis 13 Jahren ständig grundlos verprügelte – sogar bis zur Bewusstlosigkeit. Er landete in einem Projekt für schwererziehbare Kinder, lernte einen Freund kennen, durch den er in die Hooligan-Szene in Frankfurt abrutschte. Dort betrieb er Kampfsport. Bei einer Auseinandersetzung schlug Raue seinen Vater nieder und wurde vom Opfer zum Täter.

Raue kehrte zu seiner Mutter nach Berlin zurück, wo er sich sofort Kreise suchte, in denen er Gewalt ausleben konnte. Zuerst im linken Bereich, aber die waren "dreckig und haben aus Dosen gefressen. Das fand ich wenig sexy." Und so kam er zur Jugendgang 36 Boys. Sie spielten Fußball, pfiffen Mädchen hinterher und waren gewalttätig. "Wir haben unseren Platz in der Gesellschaft gesucht. Und weil wir nicht wussten wie, haben wir das ganz archaisch gemacht. Das war nicht besonders sinnvoll, aber zu dem Zeitpunkt war das mein Leben."

Natürliche Abnabelung

Von einem erfolgreichen Absprung will Raue nicht sprechen. Durch seine jahrelange Ausbildung eine Stunde außerhalb Berlins kam es zu einer natürlichen Abnabelung von der Gang und deren Mitgliedern. "Ich glaube, ich wäre auch ein sehr erfolgreicher Krimineller geworden", aber Raue wusste, dass irgendwann das richtige Erwachsenenleben anstehen würde. Was er in dieser Zeit lernte? Struktur, Kommunikation und sich zu fokussieren.

Erfolgreich in der Küche

Raue, der in der zehnten Klasse von der Schule abging und kein Abitur hatte, wollte etwas Gestalterisches machen. Architektur oder Interior-Design standen ganz oben auf seiner Traumberufsliste. Ein Test beim Berufs- und Informationszentrum spuckte ihm drei Vorschläge für die Berufswahl aus: Maler, Landschaftsgärtner, Koch. "Bei Landschaftsgärtner war ich raus, ich hasse Regen, die Arbeit im Freien und Pflanzen. Maler kannte ich schon von meinen Sprayer-Kumpels, aber da war nichts mit Gestaltung, da musste man nur 8000 Quadratmeter dreimal weißen." Für Raue blieb nur mehr das Kochen übrig. In Armut aufgewachsen, erlebte Raue am eigenen Leib, was Hunger bedeutete. Also sei es für ihn eine "sehr smarte" Entscheidung gewesen, an der Quelle zu sein, nämlich in der Küche.

"Mit Zuckerbrot ist noch niemand erfolgreich geworden", sagt Tim Raue über seinen Führungsstil in der Küche. Im schicken Gästeraum bekommt man davon nichts mit.
Foto: Jörg Lehmann

Von der ersten Küchenchefposition bis zum ersten Stern dauerte es dann "neun verfickt lange Jahre". Raue haderte lange damit, ohne Stern zu sein. 2007 ging es dann aber Schlag auf Schlag: Gault-Millau wählte ihn zum Koch des Jahres, als ersten überhaupt ohne Stern. In derselben Woche noch erhielt er den langersehnten ersten Michelin-Stern. 2013 gab es den zweiten Stern, der dritte wird nie kommen, sagt Raue, dazu sei er beruflich zu ausgereizt. Dafür tobt er sich in anderen Bereichen aus: Er designte schon Schuhe, Besteck und Porzellan, entwickelte eine Hundefutterlinie und war im Design seiner Restaurants involviert.

Facettenreche Berufung

Das Gestalterische lebt Raue also nicht nur in der Küche aus. "Es ist eine Berufung geworden, in der ich unglaublich facettenreich arbeiten kann." Seine Nebenprojekte betreibt er aus Leidenschaft, nicht fürs Geld. Dafür hat er seine TV-Auftritte wie bei The Taste: "Ich verdiene einfach im Fernsehen mehr als in der Gastronomie. Und umso stärker ich präsent bin, desto besser sind außerdem die Auslastung der Restaurants und deren Umsätze."

Tim Raue & Stefan Adrian, "Ich weiß, was Hunger ist", € 30,80 / 320 Seiten. Callwey, 2022.

Tim Raues erstmals 2011 erschienene Biografie über seinen Weg von der Straße zum Sternekoch ist soeben in einer Neuauflage – ergänzt um die Zeit, die seit damals vergangen ist – erschienen. Garniert wird seine Geschichte von Kindheitsfotos und Rezepten, die ihm besonders wichtig sind.
Foto: Verlag

Was viele laut Raue vergessen: Gastronomie sei ein sozialer Beruf. Er liebe daran, dass "man so viel Feedback sonst nur als Schaffner der Deutschen Bahn bekommt", aber das sei meist nur negativ. "Wenn die Kellner sagen, Tisch 18 hat gesagt, sie hatten das beste Jägerschnitzel ihres Lebens, ist das ein Wahnsinn." Negative Stimmen hingegen treffen Raue noch immer, obwohl er sich eine dicke Schutzschicht zugelegt hat. Er litt mehrmals in seinem Leben an Burnout, Sechstagewochen mit 18 Stunden Arbeit waren für ihn die Norm.

Er habe sich da selbst rausreißen können, sagt Raue, und wie ein Dynamo wieder aufgeladen, indem er mit Zwölfstundentagen neu angefangen hat. Aufrappeln, kämpfen, bei Fehlern nicht gleich resignieren, nur dann wird aus dir etwas – dieses amerikanische Mindset hat Raue in seinem Leben gelernt und verinnerlicht. "Mit mir und meinem Job als Koch war es ein bisschen wie eine arrangierte Ehe. Du weißt nicht, was auf dich zukommt, und kannst nur hoffen, dass mehr draus wird. Und in meinem Fall ist es tatsächlich mehr als Liebe geworden. Es ist Berufung, es ist Lebensinhalt, ich definiere mich durch das, was ich mache." (Kevin Recher, 6.11.2022)