"Es ist fast ein wenig so, als finde die Geige zu den Menschen", beobachtet Bärbel Bellinghausen.
Foto: Heribert Corn

Wer Bärbel Bellinghausen auf Google sucht, landet relativ schnell auf der Fahndungsseite des Bundeskriminalamts. Fall 3612188. Zur Fahndung ist allerdings nicht die 53-Jährige ausgeschrieben – das wäre auch ein bisschen lächerlich. Die Dame ist nämlich selbst ohne viel kriminalistisches Gespür einfach aufzufinden. Fast täglich steht sie in ihrer Werkstatt in der ehemaligen Alpenmilchzentrale im vierten Wiener Bezirk.

Gesucht wird vielmehr eines der Stücke, die in dieser Werkstatt entstehen: eine Violine mit gemusterter rötlicher Färbung an der Rückseite. Seit 2019 wird die edle Geige vermisst, zuletzt wurde sie in Italien gesehen. "Ich habe sie für eine sehr junge, begabte Studentin gebaut, die ihr dann nach sechs Wochen gestohlen wurde. Das war eine Tragödie", erinnert sich Bellinghausen, angesprochen auf das vermisste Instrument. Man hört Bedauern in ihrer Stimme, das schnell in Fröhlichkeit umschlägt: "Ich habe ihr dann einfach eine neue gebaut."

Bitte warten

Bellinghausens Instrumente sind unter Musikerinnen und Musikern begehrt, und man muss schon ziemlich viel können, um überhaupt auf die Idee zu kommen, bei ihr in der Werkstatt vorbeizuschauen. Schließlich kostet eine Violine aus ihren Händen gut 20.000 Euro. Die ist dann aber genau auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt. Gemeinsam werden die Klangeigenschaften des Instruments erarbeitet. Es wird herumprobiert, in Zehntelmillimetermaßarbeit wird immer wieder der Stimmstock im Inneren der Geige verrückt.

Allerdings finden sich in der Werkstatt auch Instrumente, die Bärbel Bellinghausen ganz nach ihren eigenen Klangvorstellungen gebaut hat. "Es kommt durchaus vor, dass Kundschaft vorbeischaut, Instrumente ausprobiert und sich dann für eines meiner bereits fertig gebauten Stücke entscheidet. Es ist dann fast ein wenig so, als finde die Geige zu den Menschen." Fragt man sie, ob es jemanden gibt, für den sie unbedingt eine Geige bauen will, legt sie eine kleine Gedankenpause ein, um diplomatisch zu werden: "Ich würde mir gerne die Zeit nehmen und die Frage später beantworten."

Gut sechs Geigen stellt die gebürtige Bonnerin in akribischer Arbeitsweise jedes Jahr her. Bratschen und Celli, die ebenfalls ihre Werkstatt verlassen, dauern entsprechend länger. "Sie sind ja auch größer", sagt die Handwerkerin. Will man also ein Instrument von Bellinghausen, braucht es vor allem Geduld. Drei Jahre Wartezeit sind üblich.

Aus diesem Scheiterhaufen aus Holzscheiten werden dereinst heißbegehrte Geigen.
Foto: Heribert Corn

Klopf auf Holz

Zum Thema Zeit hat Bärbel Bellinghausen überhaupt einen sehr entspannten Zugang. Stundenlang und meist ungestört arbeitet sie in ihrer Werkstatt vor sich hin. Sie hobelt, kocht Öllack nach, stellt eigene Pigmente aus Farbauszügen her und klopft immer wieder auf Decke und Boden. Die bilden den Korpus einer zukünftigen Violine, und die Geigenbauerin gibt keine Ruhe, ehe sie den Klang, den das Fichten- und Ahornholz von sich gibt, für optimal befindet. "Das ist die Essenz von allem", sagt Bellinghausen. Für diesen Arbeitsschritt ist ein sensibles, geschultes Gehör natürlich von Vorteil.

Bellinghausen hat so ein Gehör. Das war wohl auch hilfreich, als sie 13-jährig das Cello für sich entdeckte. Nach einem, wie sie sagt, kitschigen Erweckungserlebnis während einer Aufführung von Haydns Cellokonzert in C-Dur. Musikerin ist sie dennoch nicht geworden, dafür hätte es mehr Verve gebraucht, erzählt sie. Aber ein Grundstein für den Instrumentenbau war gelegt. Dass sie viele Stunden ihrer Kindheit und Jugend in der Werkstatt ihres Großvaters verbrachte und ihm beim Restaurieren von Möbeln zur Hand ging, erleichterte die Berufswahl. "Am Anfang meiner Laufbahn standen viele glückliche Zufälle. Vor allem, dass mein Beruf völlig mit meinen Neigungen zusammengefallen ist, empfinde ich als großes Glück", zeigt sich Bellinghausen, die ihr Handwerk an der Musikinstrumentenbauschule im bayerischen Mittenwald gelernt hat, dankbar.

Bei allem Glück und guten Voraussetzungen müssen aber auch wichtige Entscheidungen, etwa jene, wie es nach einer Ausbildung weitergehen soll, ganz alleine getroffen werden. Wer da klare Vorstellungen hat, ist im Vorteil: "Ich wollte nie Geigenhändlerin oder Restauratorin werden, sondern immer Geigenbauerin sein und den Entstehungsprozess eines Instruments vom Baumstamm bis auf die Bühne begleiten."

Bärbel Bellinghausen baut nicht nur Geigen, sondern auch Bratschen und Celli. bellinghausen.at
Foto: Heribert Corn

Die perfekte Geige

Seit über 30 Jahren baut Bärbel Bellinghausen nun schon Geigen und ist eine von rund 50 Geigenbauerinnen und Geigenbauern in Wien. In keiner anderen Stadt der Welt ist das Angebot dichter. "Wien ist eben eine Musikmetropole", sagt die Instrumentenbauerin. Aber nicht alle stellen wie Bellinghausen ausschließlich neue Geigen, Bratschen und Celli her. Der Großteil repariert und restauriert in seinen Werkstätten Streichinstrumente oder hat sich auf den Handel damit spezialisiert. In der überschaubaren Branche kennt man einander jedenfalls sehr gut. Man trifft sich regelmäßig und spielt sich dabei gegenseitig auf den neuesten Instrumenten vor. "Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen über Klang und Arbeitstechniken ist Teil meiner Arbeit."

Eine sehr komplexe Arbeit, für die sich Bellinghausen täglich aufs Neue begeistert. "450 Gramm Holz so zusammenzubauen, dass ein erstaunlich lauter und schöner Ton dabei herauskommt und vielleicht am Ende die Geige entsteht, die man sich immer erträumt hat, ist faszinierend." Die ultimative Traumgeige ist nach drei Jahrzehnten Berufserfahrung trotzdem noch nicht dabei gewesen: "Ich werde mit den Jahren zwar immer zufriedener, aber es gibt immer etwas zu optimieren", sagt Bellinghausen und ergänzt: "Sollte ich einmal die perfekte Geige bauen, höre ich auf der Stelle auf."

Aus diesen Stoffen werden patentierte Schutzhüllen für hochempfindliche Musikinstrumente. violincocoon.com
Foto: Heribert Corn

Gib Stoff

Fad werden würde es Bärbel Bellinghausen trotzdem nicht. Im ersten Lockdown hatte sie die Idee, Schutzhüllen für ihre Instrumente zu schneidern. Denn Geigen sind empfindlich und können klangtechnisch zickig werden, wenn sie Luftfeuchtigkeits- und Temperaturschwankungen ausgesetzt werden. Bellinghausens junges Unternehmen Violin Coocon Vienna löst diese Problematik und stellt aus edlen Stoffen wie Seide, Satin oder Brokaten Schutzhüllen her, die ohne Verschlüsse und Tunnelzüge auskommen. Dafür gab’s sogar ein Patent. Die Violin Cocoons haben jedenfalls einen Nerv getroffen. Und Bellinghausen lagert das Nähen mittlerweile an eine Initiative aus, die gehörlose Näherinnen beschäftigt.

Ein ganzer Raum, voll mit besonderen Stoffen, findet sich trotzdem in ihrer Werkstatt. Nicht ohne Stolz zeigt sie ihre Schätze. Stoffbahnen japanischer Vintage-Kimonoseiden etwa. "Befreundete Künstler und Künstlerinnen bringen mir das von ihren Konzerttouren mit", erzählt Bellinghausen und hält kurz inne: "Ich bin Ihnen noch die Antwort schuldig, für wen ich gerne eine Geige bauen würde. Eine Barockgeige für Amandine Beyer und eine moderne Geige für Ivry Gitlis, aber der ist leider schon tot, daher für Augustin Hadelich, denn der könnte noch darauf spielen." (RONDO exklusiv, Manfred Gram, 22.12.2022)