Kein Land oder keine Union könne den Wiederaufbau alleine stemmen, man brauche starke Partner, sagt von der Leyen.

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Berlin/Kiew/Moskau – Der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben zu einem internationalen Kraftakt für den Wiederaufbau der Ukraine aufgerufen. Ein solcher Marshallplan nach dem Vorbild des US-Aufbauprogramms für Deutschland und ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg sei "eine Generationenaufgabe, mit der man jetzt beginnen müsse", forderte Scholz am Dienstag bei einer internationalen Expertenkonferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Berlin.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warb für rasche internationale Investitionen in den Wiederaufbau seines durch den russischen Krieg stark zerstörten Landes. Wer in den Wiederaufbau der Ukraine investiere, investiere in ein künftiges EU-Mitgliedsland, betonte Selenskyj, der für eine Rede live per Video zu der Konferenz zugeschaltet war, laut Simultanübersetzung.

38 Millionen Euro an Finanzbedarf

Selenskyj nannte einen Finanzbedarf von 38 Milliarden Dollar, um das Staatsdefizit im kommenden Jahr auszugleichen. Das Geld werde benötigt, um Lehrer und Ärzte zu bezahlen sowie Renten auszuzahlen. Die G7 hat bereits weitere Finanzhilfen für 2023 zugesagt. In diesem Jahr flossen ihren Angaben zufolge zusätzlich zur militärischen und humanitären Unterstützung bereits Budgethilfen in Höhe von 20,7 Milliarden US-Dollar, insgesamt sind 33,3 Milliarden Dollar zugesagt. Mit Abstand größter Geldgeber sind die USA, Deutschland ist laut Finanzministerium mit einem Anteil von 1,4 Milliarden Euro größter Geber innerhalb der EU.

Der deutsche Kanzler Scholz versprach erneut, Deutschland werde die Ukraine weiterhin mit dringend benötigten Luftverteidigungssystemen ausstatten. Der beste Wiederaufbau sei "der Wiederaufbau, der gar nicht notwendig wird, weil die Städte und Kraftwerke der Ukraine vor russischen Bomben, Drohnen und Raketen geschützt sind". Deutschland werde die Ukraine so lange wie nötig unterstützen. "In ihrem Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität ist die Ukraine nicht alleine."

Bei der Konferenz gehe es darum, Wege für die Gestaltung der Zukunft des Landes zu finden, "nicht nur für die kommenden Monate, sondern für die kommenden Jahre", sagte Scholz. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, müssten private und staatliche Investoren der ganzen Welt zusammengebracht werden.

Der ukrainische Präsident Selenskyi war per Video zur Konferenz zugeschaltet.
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Chance für die Zukunft

Der Wiederaufbau biete auch eine Chance für die nächsten Generationen, sagte Scholz. Es müsse darüber nachgedacht werden, wie eine weiterentwickelte, nachhaltige und widerstandsfähige Ukraine entstehen könne. Das Land könne zu einem wichtigen Erzeuger grüner Energie und einem Exporteur qualitativ hochwertiger Industrie- und Agrarprodukte werden sowie ein digitales Kraftzentrum mit einigen der besten Experten der Welt. Mit Blick auf den Kandidatenstatus der Ukraine als mögliches künftiges EU-Mitglied sagte Scholz, nicht nur die Ukraine werde dadurch stärker werden, sondern Europa insgesamt.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte, kein Land oder keine Union könne den Wiederaufbau alleine stemmen. Man brauche starke Partner wie die USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Australien und andere Länder sowie Institutionen wie die Weltbank. Mit Blick auf den Wiederaufbau von Infrastruktur sagte von der Leyen, dies müsse eingebettet werden in den Weg der Ukraine in die EU.

Direkte Budgethilfen

Die EU sollte nach Ansicht von der Leyens ein Drittel des Finanzbedarfs der Ukraine für das kommende Jahr übernehmen. Nötig sei ein auf beiden Seiten verlässlicher Mechanismus, sagte sie. Die Ukraine brauche etwa drei bis fünf Milliarden pro Monat, je nachdem, wie viel sie selbst exportieren könne. "Etwa ein Drittel sollten wir finanzieren", sagte von der Leyen. Das wären direkte Budgethilfen von 18 Milliarden im Jahr, solange der russische Krieg dauere.

Zugleich verlasse sich die EU darauf, dass die USA eine ähnliche Summe zur Verfügung stellten. Der Rest solle über internationale Finanzierungsinstitutionen wie den IWF abgedeckt werden. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal bezifferte das Haushaltsdefizit für 2023 auf 38 Milliarden Euro. Die Ukraine habe in diesem Jahr rund 45 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung verloren.

IWF-Chefin Kristalina Georgiewa zufolge müssen andere Staaten der Ukraine 2023 pro Monat rund drei Milliarden Dollar zuschießen. Dies sei noch ein günstiges Szenario. Sollten die russischen Bombardierungen ein noch stärkeres Ausmaß annehmen, könnten es bis zu fünf Milliarden Dollar pro Monat werden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) arbeite an einem umfassenderen Hilfsprogramm für die Ukraine, sagt Georgiewa in Berlin.

Mehr Waffen benötigt

Der ukrainische Ministerpräsident Schmyhal lobte die militärische Unterstützung Deutschlands im Krieg gegen die russischen Angreifer, bat aber gleichzeitig um weitere Waffen – auch Panzer. Er würdigte vor allem das Flugabwehrsystem Iris-T, das eine ganze Großstadt schützen kann. Drei weitere dieser Systeme sollen im kommenden Jahr geliefert werden.

Schmyhal betonte aber auch, dass die ukrainischen Streitkräfte mehr Waffen und Munition bräuchten, um den Krieg zu gewinnen. "Wir brauchen Panzer von unseren Partnern, von allen unseren Partnern, wir brauchen gepanzerte Fahrzeuge, wir brauchen zusätzliche Artillerie." (APA, dpa, 25.10.2022)