Obwohl wir ihm noch nie begegnet sind, kennen wir ihn: blass, drahtig, melancholisch. Er hat Jahrhunderte überdauert, ohne wirklich alt zu werden. Die Liebe lässt ihn über Leichen gehen.

Die wirklich großen Popkulturphänomene erzeugen oft auf Anhieb eine seltsame Vertrautheit. Die Regeln sind intuitiv klar, wie bei einem Popsong, von dem man glaubt, ihn schon einmal gehört zu haben und die Melodie weitersummen zu können. Tatsächlich ist das Wiederverwenden bekannter Motive in Popmusik und Film ein beliebtes Mittel, mit dem sich eine starke Bindung zum Publikum erreichen lässt. James Cameron ist ein Meister dieses Fachs, die exotischen Tiere in seinem Film "Avatar" glaubt man alle schon einmal gesehen zu haben. Er bediente sich dabei auch in anderen Bereichen der Produktion an so vielen Quellen, dass er sich von unterschiedlichen Seiten mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert sah.

Der traditionelle Vampir ist meist ein dunkelhaariger Mann mit Cape. Doch bevor Bram Stoker Graf Dracula erfand, beherrschte eine lesbische Vampirin aus der Steiermark das Genre.
Foto: APA/AFP/OLI SCARFF

"Avatar" will Realismus vorgaukeln, doch Horror ist anders, er beschäftigt sich durchwegs mit unmöglichen Phänomenen. In diesem Fall ist das Gefühl von Vertrautheit eigentlich ein Rätsel. Vampire existieren nicht, ebenso wenig wie Zombies, die ein jüngeres Phänomen sind, aber ähnlich starken gefühlten Regeln unterliegen. Etwas spricht durch diese Genres direkt zum Unterbewusstsein der Fans.

Die Vampirin als Urform

Ein Grundmotiv der Dracula-Erzählung ist das unbemerkte Eindringen von etwas Fremdem in unsere Mitte. Im konkreten Fall lässt sich der transsilvanische Graf Dracula in London nieder, wo er nachts die unwissende Bevölkerung heimsucht. Die Angst vor dem Fremden aus dem Osten hat gerade in Österreich Tradition, ein weiteres vertrautes Element, wie es scheint. Doch in diesem Fall lockt uns unser Bauchgefühl in eine Falle. Bram Stoker wollte seine Vampirgeschichte ursprünglich in der Steiermark ansiedeln, wie frühe Skizzen belegen.

Er orientierte sich dabei an der Novelle "Carmilla" seines irischen Autorenkollegen Joseph Sheridan Le Fanu, dessen Vampirgeschichte tatsächlich in der Steiermark spielt. Die Grenzen des wilden Osteuropas sind also eine Frage des Standpunkts – von Irland aus betrachtet liegt auch die Steiermark ziemlich weit östlich. "Carmilla" enthält viele Elemente der später zu internationaler Bekanntheit gelangten Dracula-Geschichte. Es gibt aber einige interessante Unterschiede. Die heute weitgehend vergessene Urversion dreht sich um eine Vampirin und die Andeutung einer lesbischen Liebesbeziehung, eine weit weniger von Angst getriebene Geschichte als "Dracula". Zu Weltruhm brachte es Bram Stokers alter, männlicher Vampir, der junge Frauen anfällt.

Bram Stoker wurde stark von einer Schauergeschichte namens "Carmilla" des irischen Autors Joseph Sheridan Le Fanu inspiriert, die von einer Vampirin handelt.
Foto: Bild: David Henry Friston / gemeinfrei / public domain

Das Bauchgefühl, das wir zu Vampiren haben, ist dabei so stark, dass es im 18. Jahrhundert zum Problem wurde. Vampirglaube war in der Landbevölkerung Europas weitverbreitet, was Maria Theresia einst zum Handeln bewog. Sie schickte ihren Leibarzt van Swieten ins heutige Tschechien, wo der Vampirglaube tief verankert war. Oft wurden Menschen aus Angst vor ihrer Rückkehr als Vampire exhumiert. In Polen legte man Verstorbenen schon beim Begräbnis Sicheln über den Hals, um sie am Wiederaufstehen zu hindern.

Der Aufklärer van Swieten sorgte für Ordnung, so gut er konnte, und schrieb Gutachten, in denen er die Existenz von Vampiren in Abrede stellte. Er wurde später zur Vorlage für Bram Stokers Vampirjäger Van Helsing. Der rationale Wissenschafter, der sich mit dunklen Mächten auseinandersetzt, wodurch sein Wissenschaftsglaube infrage gestellt wird, ist seither ein fixer Bestandteil des Schauer- und Horrorgenres.

Der Mythos "Hexe" hat sich bis ins 21. Jahrhundert gehalten. Warum sind Menschen bis heute von diesem Fabelwesen begeistert und welche Gefahren können mit dieser Faszination einhergehen?




DER STANDARD

Echte Blutsauger

Dabei gibt es Vampire tatsächlich. Neben den bekannten, lästigen Insekten sind es Säugetiere wie Fledermäuse, die sogar Menschen angreifen können und aufgrund ihrer Nachtaktivität und dunklen, unbehaarten Anmutung die Idee von Vampiren besonders geprägt haben.

Das Trinken von Blut in großen Mengen ist übrigens nur diesen spezialisierten Lebewesen anzuraten. Blut enthält zwar viele Proteine, aber kaum Zucker und Fett. Lebensverlängernd wirkt das Trinken von Blut ebenfalls nicht, es wird nach dem Genuss einfach verdaut.

Wer sich mit Blut selbst verjüngen will, muss anders vorgehen. In einem aufsehenerregenden Experiment an Mäusen gelang es, eine alte und eine junge Maus chirurgisch zu verbinden, sodass sie sich den Blutkreislauf teilten. Wie sich zeigte, verjüngt das Blut der jungen Maus die alte signifikant. Nirgendwo sonst kommt die Wissenschaft der Idee von Vampirismus so nahe.

Die "Carmilla"-Geschichte spielt in der Steiermark, auch Graz kommt darin vor. Zwischen der Vampirin und ihrem Opfer wird eine gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung angedeutet. Denn hinter dem Mädchen Carmilla steckt in Wirklichkeit die Gräfin Mircalla.
Bild: David Henry Friston / gemeinfrei / public domain

Doch Realismus ist nur von untergeordneter Bedeutung, wenn es um Vampire geht. Horror beschäftigt sich mit menschlichen Urängsten. Es ist bezeichnend, dass etwa der wichtigste Horrorautor H. P. Lovecraft, ein "flammender Rassist", wie Stephen King einmal richtig feststellte, sein ganzes Werk um das Gefühl einer Bedrohung durch Fremdes aufbaute. Er schwelgte in dem Gefühl der Angst. Das ergibt Sinn: Xenophobie ist schließlich nicht der Hass auf Fremdes, sie ist die Angst davor. Letztere muss nicht notwendigerweise zu Hass werden, sondern übt manchmal eine starke Anziehungskraft aus.

Die Wissenschaft hat das gefühlte Wissen um die Existenz von Vampiren heute weitgehend ausgelöscht. Die Idee hat als kulturelles Phänomen überlebt und findet noch heute mühelos ihren Weg in unser Unterbewusstsein, wo sie für wohligen Grusel sorgt, wenn man Freude an Fremdem hat. (Reinhard Kleindl, 31.10.2022)