Seit dem im Juli vereinbarten Abkommen sollen laut türkischen Angaben bisher 9,3 Millionen Tonnen Getreide verschifft worden sein.

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Mit der Aussetzung des internationalen Abkommens zum Export von Getreide aus der Ukraine übers Schwarze Meer hat Russland scharfe Kritik auf sich gezogen. Westliche Regierungen und die Nato appellierten am Sonntag an Präsident Wladimir Putin, die Verpflichtungen der im Sommer geschlossenen Übereinkunft einzuhalten. UN-Generalsekretär António Guterres und die Türkei bemühen sich unterdessen das Abkommen zu retten.

Uno-Generalsekretär Guterres sei "zutiefst besorgt" und führe intensive Kontakte mit dem Ziel, die Aussetzung des Abkommens wieder rückgängig zu machen, teilte UN-Sprecher Stepháne Dujarric am Sonntag in New York mit. Guterres verschob deshalb auch seine Abreise zu einem Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Algerien.

218 Frachtschiffe blockiert

Auch die Türkei setzt ihre Verhandlungen mit den zuständigen Akteuren fort, teilte das türkische Verteidigungsministerium am Sonntagabend mit. Die russischen Vertreter seien weiter im gemeinsamen Koordinierungszentrum in Istanbul. Am späten Sonntagabend einigte sich die Vereinten Nationen, die Türkei und die Ukraine auf einen "Fahrplan" für 16 Schiffe, die sich in türkischen Gewässern befinden, und auf die Inspektion von 40 auslaufenden Schiffen, die am Montag durchgeführt werden soll.

Nach ukrainischen Angaben ist derzeit wegen des russischen Ausstiegs aus dem Abkommen die Weiterfahrt von 218 Frachtschiffen blockiert. 22 Schiffe mit Agrargütern seien bereit zum Auslaufen aus ukrainischen Häfen, teilt das Infrastrukturministerium mit. 95 weitere Schiffe hätten die Häfen bereits verlassen und warteten auf die abschließende Freigabe zur Weiterfahrt zu ihren Zielen. 101 leere Schiffe warteten auf die Freigabe zum Einlaufen in ukrainische Häfen.

Exportabkommen seit Juli

Russland hatte seine Zustimmung zu den Exporten am Samstag "auf unbestimmte Zeit" ausgesetzt. Moskau begründete dies mit ukrainischen Drohnenangriffen auf seine Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim, die Moskau seit 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat. Den Angaben nach wurden bei dem Angriff in Sewastopol am Samstagmorgen das Minenräumboot "Iwan Golubez" und einige Hafenanlagen beschädigt. Videoaufnahmen, die angeblich den Angriff zeigen, legten aber nahe, dass noch mehr Schiffe getroffen worden sein könnten.

Wegen Drohnenangriffen auf russische Schiffe aus dem geschützten Korridor im Schwarzen Meer könne Russland "die Sicherheit von zivilen Schiffen, die im Rahmen der oben genannten Initiative reisen, nicht garantieren", erklärte der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja. Kiew hält dies für einen Vorwand.

Das im Juli unter Vermittlung der Türkei und der Uno vereinbarte Abkommen hatte die monatelange Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren infolge des russischen Angriffskriegs beendet. Laut türkischen Angaben sind seither 9,3 Millionen Tonnen Getreide verschifft worden. Es war verabredet worden, dass die Schiffe und ihre Fracht jeweils bei der Durchfahrt durch die türkische Meerenge Bosporus kontrolliert werden.

"Nahrungsmittel als Waffe"

Nicht nur für die Ernährung in vielen anderen Ländern ist dies von Bedeutung – auch für den Haushalt der Ukraine. Aus den Milliardeneinnahmen sollten letztlich auch die ukrainischen Bauern wieder eine neue Saat ausbringen können.

Ursprünglich sollte das Abkommen am 19. November auslaufen – wäre aber, wenn keine Seite widersprochen hätte, automatisch verlängert werden. Moskau hatte das Abkommen zuletzt immer wieder kritisiert, weil es sich infolge der Sanktionen des Westens bei den eigenen Getreide- und Düngemittelexporten ausgebremst sieht.

Das westliche Militärbündnis Nato rief Russland am Sonntag dringend auf, das Getreide-Abkommen wieder in Kraft zu setzen. Präsident Wladimir Putin müsse aufhören, Lebensmittel als Waffe einzusetzen, und er müsse den illegalen Krieg in der Ukraine beenden, sagt Sprecherin Oana Lungescu.

Auch die EU forderte Moskau dringend dazu auf, die Entscheidung rückgängig zu machen. Das verlangte auch das österreichische Außenministerium. Russland missbrauche erneut auf zynische Art und Weise Nahrungsmittel als Waffe, hieß es am Sonntag in einer Stellungnahme. Russland spiele erneut leichtfertig mit dem Leben und den Lebensgrundlagen von Millionen besonders verwundbarer Menschen. "Wir fordern Russland dringend auf, die getroffenen Vereinbarungen zu respektieren und seiner internationalen Verantwortung nachzukommen."

Ausstieg möglicherweise länger geplant

Auch US-Präsident Joe Biden warnte, dass das russische Vorgehen für noch mehr Hunger auf der Welt sorgen werde. Außenminister Antony Blinken erklärte: "Russland setzt Nahrungsmittel erneut als Waffe ein."

Moskau verschärfe mit seinem Handeln den Hunger in Welt, sagte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Schon seit September verzögere Russland die gemeinsamen Kontrollen von Schiffen vor der Durchfahrt durch den Bosporus.

Es gebe überhaupt keine Anhaltspunkte, dass die Explosionen auf der besetzen Krim am 29. Oktober Grund für Russlands Ausstieg aus dem Getreideabkommen seien, sagte der ukrainische Botschafter in Österreich, Wassyl Chymynez, in einer schriftlichen Erklärung. Die lange Warteschlange von Frachtschiffen zeige, dass der Kreml bereits im September den Entschluss gefasst habe, den ukrainischen Export zu blockieren. Der Diplomat warnte in diesem Zusammenhang vor einer drohenden sozialen und politischen Destabilisierung in zahlreichen Staaten in Afrika und Asien. Chymynez brachte gleichzeitig die Erwartung zum Ausdruck, dass Partner der Ukraine den Druck auf Russland erhöhten, um eine Wiederaufnahme des Getreide-Korridors zu ermöglichen. (APA, red, 30.10.2022)