Aufgeschaukelte Emotionen: Wut auf Asylsuchende entlud sich am 26. Oktober bei einer Demonstration vor dem Erstaufnahmezentrum Thalham in St. Georgen. Anlass war der Protest der Gemeinde gegen die Flüchtlingszelte – zur Demo kamen dann etliche Rechtsextreme.
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Für Einheimische, die Menschen aus fernen Ländern kritisch gegenüberstehen – es sei denn, sie kommen aus touristischen Gründen für wenige Tage –, ist es keine schöne Vorstellung. Doch für das Land und alle, die hier leben, wäre es von Vorteil, wenn – zum Beispiel – gastronomieerfahrene Tunesier und Tunesierinnen mit einem Arbeitsvisum nach Österreich kommen könnten – statt wie bisher ein Flugticket nach Belgrad zu kaufen und sich von dort aus illegal nach Österreich durchzuschlagen.

Allein im heurigen Jahr stellten in Österreich schon mehr als 9000 Menschen aus dem nordafrikanischen Land – vorwiegend Männer – einen Asylantrag, ohne jegliche Asylgründe zu haben. Das Gleiche taten mehr als 12.000 Inder aus dem Punjab und 7000 Pakistanis.

Der Asylantrag verhindert ihre rasche Zurückweisung an der Grenze, doch die meisten von ihnen reisen nach wenigen Tagen weiter. Sie suchen keinen Schutz, sondern Jobs, die sie großteils als Schwarzarbeiter in der Agrarindustrie im Süden der EU finden. Geht das nicht anders? Hier einige Möglichkeiten.

Asyl und Migration werden klarer getrennt

Tunesien ist ein beliebtes Ferienziel für Europäerinnen und Europäer. Viele Menschen dort kennen sich im Tourismus aus. Viele von ihnen haben keinen Job – sie wären anwerbbar und könnten den bitteren Personalmangel in der österreichischen Gastronomie lindern.

Dann würden sie hierzulande Steuern zahlen und könnten gleichzeitig Geld nach Hause überweisen, das sie auf legalem Weg verdient haben. Jene von ihnen, die Interesse hätten, sich in Österreich niederzulassen, müssten die Möglichkeit dazu bekommen.

Arbeitsvisa für Menschen, die derzeit keine Chance darauf haben, würden einer langjährigen Forderung von Kritikern des aktuellen Flüchtlingswesens entgegenkommen: der klareren Trennung von Migration und Asyl. Und sie wären ein migrationspolitischer Quantensprung, der dem Arbeitsmarkt und der Wirtschaft nutzt.

Um ein modernes Migrationswesen aufzubauen, das Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Bevölkerung gleichermaßen entgegenkommt, braucht es jedoch mehr. Wie sollen die neuen Regeln aussehen, die Österreich zukunftsfit machen?

38.000 neue Jobs gibt es auf dem österreichischen Arbeitsmarkt im Schnitt pro Jahr, etwa in Lehrberufen oder in der Pflege.
Foto: Philipp Horak/ KWP

Österreich wird offiziell zum Einwanderungsland

Beginnen müsste die Veränderung in den Köpfen der politisch Verantwortlichen. Migrationsfachleute wissen es seit Jahren, und die Erfahrungen des täglichen Lebens in Österreich zeigen es: Das Land ist ein Einwanderungsland – auch wenn es das bewusst nie werden wollte. Seit 2015 ist der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, also laut Statistik Austria jener Menschen, deren beide Elternteile im Ausland geboren sind, von ohnehin schon hohen 21,4 auf 25,4 Prozent gestiegen. Das ist deutlich mehr als in den USA und wird nur von wenigen Staaten übertroffen.

Ursache dessen ist, dass Österreichs Regierung es nicht in der Hand hat zu entscheiden, wie viele Menschen sie ins Land lassen will. Zu glauben, dass hier Kontrolle möglich sei, ist einer der größten Irrtümer in der Migrationsdebatte. Vielmehr findet der größte Teil der Zuwanderung ohne Zutun der Politik statt. 60 Prozent der Migranten und Migrantinnen stammen aus der EU: Sie haben das Recht, sich in Österreich niederzulassen, um hier zu arbeiten. Ein weiterer großer Teil entfällt auf die Familienzusammenführung. Im Land lebende Drittstaatenangehörige haben die Möglichkeit, Ehepartner und minderjährige Kinder nach Österreich nachzuholen, sofern sie diese versorgen können.

Das gilt auch für anerkannte Flüchtlinge und ist unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Auch das Asylrecht entzieht sich weitgehend der Gestaltung durch die nationale Politik.

Die Rot-Weiß-Rot-Karte wird großzügig reformiert

Politisch eingreifen kann der Staat im Wesentlichen nur in jenen kleinen Teilbereich der Zuwanderung, in dessen Rahmen ausländische Arbeitskräfte oder Fachkräfte aus Drittstaaten ins Land kommen dürfen. Hier müssten Regierung, Interessensgruppen und Behörden weit mehr managen als bisher.

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Grafik: STANDARD

Anzusetzen wäre da bei der Rot-Weiß-Rot-Karte. Diese gibt es seit Juli 2011, und sie ermöglicht Nicht-EU-Staatsangehörigen, ins Land zu kommen, um hier zu arbeiten. Doch das funktioniert nicht gut, die Zahlen sind extrem bescheiden. Gerade einmal zwischen 3000 und 4000 Menschen kommen pro Jahr mit der Karte als Arbeitskräfte. Gebraucht werden weit mehr.

Alljährlich gibt es am österreichischen Arbeitsmarkt im Schnitt Jobs für 38.000 neue Beschäftigte. 68 Berufe stehen aktuell auf der bundesweiten Mangelliste, die jene Berufe anführt, in denen es besonders wenige Jobsuchende je offener Stelle gibt. Die Liste reicht von Schlossern und Schlosserinnen, Maurer- und Krankenpflegejobs bis hin zu diversen technischen Berufen. Und die Situation spitzt sich zu: Im kommenden Jahr könnte es erstmals über 100 Mangelberufe geben.

Was also tun? Die Rot-Weiß-Rot-Karte muss viel großzügiger gewährt werden. Talentierten Menschen mit nachgefragten Berufen sollte ermöglicht werden, vorerst für eine bestimmte Zeit ins Land zu kommen, um Fuß fassen zu können. Wer Arbeit findet, soll automatisch länger und bald unbegrenzt bleiben dürfen. Derzeit hat nur eine Chance, wer spezifische Qualifikationen und Sprachkenntnisse nachweisen kann. Das muss sich ändern.

Auch sollte der Prozess, um eine Rot-Weiß-Rot-Karte zu bekommen, verkürzt werden. Derzeit dauert das viel zu lang: Unternehmen können die Karte erst beantragen, wenn sie bereits eine passende Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter im Ausland gefunden haben. Diese erhalten erst nach der Kartenausstellung das Recht, nach Österreich einzureisen.

Im Ausland werden massiv Arbeitskräfte angeworben

Die Rot-Weiß-Rot-Karte zu ändern wird jedoch nicht ausreichen. Österreichs Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ist am Schrumpfen – und die Zuwanderung aus Osteuropa, woher seit 2004 an die 300.000 Menschen kamen, geht dem Ende zu.

Was also tun? Der Staat sollte sich aktiv mit einem großen Programm um die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte kümmern: Pflegerinnen aus den Philippinen, Techniker aus Indonesien und der Türkei, Ingenieure aus Vietnam. Dafür müsste der Staat eine Agentur schaffen oder das Arbeitsmarktservice (AMS) beauftragen, Büros in Jakarta, Delhi oder Istanbul zu eröffnen. Vorbilder dafür gibt es: Die Bundesagentur für Arbeit in Deutschland hat mit mehreren Ländern Partnerschaftsabkommen geschlossen und unterhält Auslandsbüros.

AMS-Chef Johannes Kopf sagt, dass Deutschland einige andere interessante Initiativen in diese Richtung hat: Deutsche Autobauer ermöglichen Lehrlingen in China, in ihren Werken eine Berufsausbildung zu absolvieren, die auch in Deutschland anerkannt ist – eine Gelegenheit für auswanderungswillige Chinesen. Österreich hat solche Kooperationen bisher nicht und sollte das nachholen.

Viele Stellen können nur besetzt werden, wenn im Ausland Kräfte geworben werden.
Foto: Michèle Pauty

Das Reden über Flüchtlinge und Asyl wird entgiftet

Auf anderen Wegen, nämlich meist mithilfe von Schleppern, kommen jene Menschen ins Land, die hier Asyl beantragen. Die Kontroversen um sie gehören zu den tiefsten gesellschaftlichen Konflikten in Österreich. Ihnen verdankt die FPÖ einen gut Teil ihres Aufstiegs, sie haben den politischen Diskurs in Österreich nach rechts verschoben und zum Teil vergiftet.

Der Asylstreit ist nach wie vor für rechtslastige Stimmungsmache geeignet. Das zeigt der Umgang mit der Krise der Asylwerber-Unterbringung oder die ÖVP-Forderung, die Anwendung der Menschenrechtskonvention zu ändern.

Hier hilft nur eines: ein Neustart in der Kommunikation. Das Wählerfangen und Stimmungsmachen auf Kosten des höchst vielschichtigen Themas Asyl muss ein Ende haben. Also sollten sich alle dafür ansprechbaren politischen und gesellschaftlichen Kräfte selbst dazu verpflichten, faktentreu mit Flüchtlingsfragen umzugehen.

Gleichzeitig muss das Wegducken, wenn es mit Asylsuchenden Schwierigkeiten gibt, ein Ende haben. Probleme, etwa mit ausschließlich von jungen Männern bewohnten Quartieren, müssen ernst genommen und gelöst werden. Die Erfahrung zeigt, dass es dort, wo die Einwohnerschaft von Beginn an in Unterkunftspläne eingebunden ist, weniger Verwerfungen gibt.

Ist das nicht völlig illusorisch? Nicht unbedingt. Nehmen wir als Beispiel die Ukraine-Vertriebenen, die nach dem Überfall Russlands auf ihr Land im Februar dieses Jahres zu Zehntausenden nach Österreich kamen. Warum gelang es, sie zu versorgen und unterzubringen? Weil der politische Wille dazu da war und die Zivilgesellschaft als Partnerin aktiv angesprochen wurde – und in hohem Maß mithalf.

Der Bund erhält ein Quartier-Durchgriffsrecht

Politischen Willen bräuchte es auch, um die strukturellen Probleme im österreichischen Asylwesen zu lösen. Wir erleben es alle: Trotz einer seit 2004 bestehenden Vereinbarung zwischen Bund und Ländern brechen bei der Unterbringung von Flüchtlingen wellenmäßig Krisen aus. Das System funktioniert nicht.

Hier braucht es zweierlei. Um zu verhindern, dass in den Bundesländern immer dann, wenn weniger Asylsuchende kommen, Quartiere als unfinanzierbar geschlossen werden, die dann, wenn wieder mehr Bedarf ist, fehlen, muss das System kontinuierlich finanziert werden. Das ist derzeit nicht der Fall.

Auch ein Durchgriffsrecht des Bundes gegenüber den Ländern, das die Verantwortung fürs Quartiermachen eindeutig regelt, könnte helfen. Es könnte dem Taktieren von Bürgermeistern und Landeshauptleuten ein Ende bereiten. Aktuell verweigern sich viele von ihnen der Unterbringungssuche, so lange es irgendwie geht. Dabei wäre der Bedarf zu stemmen. Laut Bundesbetreuungsagentur BBU handelt es sich derzeit um mehrere Hundert Betten pro Woche im ganzen Land.

Asylzelte sorgen oft für Aufregung in Österreich.
Foto: APA/DANIEL SCHARINGER

Österreich nimmt das Resettlement wieder auf

Auch Vorschläge zur Umverteilung von Flüchtlingen verdienen mehr Unterstützung durch die Bundesregierung, sei es innerhalb der EU oder international via Resettlement. Die Umverteilungspläne der EU hätten für das Land nur Vorteile, andere Unionsstaaten würden einen Teil der vielen in Österreich Asylsuchenden übernehmen. Doch um ein solches Programm durchzusetzen, müsste Österreichs Politik in Brüssel anders agieren als jetzt. Derzeit betätigt sie sich als Bremserin dieser und anderer Asylpläne der EU-Kommission – und schmiedet inzwischen Außengrenzfinanzierungspläne mit dem nationalistischen Serbien und dem demokratiepolitisch falsch abgebogenen Orbán-Regime in Ungarn.

Resettlement wiederum würde das Asylwesen im Land tendenziell beruhigen. Aufgenommen würden Menschen, die von den Vereinten Nationen als Flüchtlinge anerkannt und auf ihre Übersiedlung nach Österreich vorbereitet wurden – etwa in einem der großen von der Uno mitbetriebenen Flüchtlingslager des Nahen Ostens. Sie könnten dann legal einreisen, das verdirbt Schleppern das Geschäft.

Österreichs Resettlementprogramm wurde 2018 aufgekündigt. Die türkis-blaue Regierung begründete es mit dem Argument, 2015/16 seien ohnehin zu viele Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Aber auch in den Jahren mit wenig Zuzug blieb die ÖVP in dieser Frage hart – auch gegen besseres Wissen. (Irene Brickner, Andras Szigetvari, 19.11.2022)