Die Situation des französischen Stromnetzes ist ernst. 27 der 56 Atommeiler sind wegen Wartungsarbeiten oder Sicherheitslecks außer Betrieb.

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Also doch. Seit mehreren Monaten hat die Regierung in Paris beteuert, ein nationaler Stromausfall sei sehr unwahrscheinlich. Jetzt werden die 65 Millionen Landesbewohner dennoch auf die Möglichkeit eines Blackouts eingestimmt. Und zwar auf sehr vorsichtige Weise: Am Donnerstag berichteten die Pariser Medien mit Bezug auf nicht näher bezeichnete Regierungsquellen, dass die ersten Unterbrechungen im Jänner erfolgen könnten. Nach dieser Vorbereitung der öffentlichen Meinung will Premierministerin Elisabeth Borne die Präfekte, das heißt die Staatsvertreter in den hundert Departementen, detailliert instruieren.

Die Situation des französischen Stromnetzes ist ernst. 27 der 56 Atommeiler im ganzen Land sind wegen Wartungsarbeiten oder Sicherheitslecks außer Betrieb. Statt 60 Gigawatt Leistung produziert der imposante AKW-Park Frankreichs nur noch gut die Hälfte. Der Stromkonzern Electricité de France (EDF) hinkt seinem Versprechen, noch in diesem Jahr wieder 40 Gigawatt zu erreichen, seit Wochen hinterher. Anfang der Woche musste deshalb im lothringischen Saint-Avold ein zweites Kohlekraftwerk angeworfen werden, obwohl Präsident Emmanuel Macron geschworen hatte, die CO2-Schleudern endgültig abzuschalten.

Importe und Sparen

Diese Energiequelle genügt Frankreich aber so wenig wie der Stromimport aus Deutschland und Belgien. Die Appelle zum Energiesparen zeitigen offenbar zu wenig Wirkung. Die nächtliche Straßenbeleuchtung wird eingeschränkt, die Wassertemperatur in den Schwimmbädern gesenkt und das Homeoffice wie zu Covid-Zeiten gefördert. Der Arbeitgeberverband Medef hat 16 Empfehlungen herausgegeben, darunter eine Bürotemperatur von 19 Grad. Beamte dürfen auf der Autobahn nur noch 110 km/h fahren.

All diese Vorkehrungen genügen nicht. Die Regierung bereitet sich deshalb darauf vor, den Strom auf gestaffelte und gezielte Weise zu kappen. Sie spricht wenig präzis von "délestage" ("Entlastung", im Stromerjargon "Lastabwurf"). Das ominöse Wörtchen "Blackout" soll offensichtlich vermieden werden, um die Ruhe im Land zu gewährleisten.

Die anonymen Regierungsquellen erklären, dass die Unterbrechungen nicht das ganze Land ins Dunkel stürzen würden; sie beträfen nur einzelne ausgewählte Gebiete "wie auf einem Leopardenfell". Die betroffene Bevölkerung würde über die neue App "Ecowatt" drei Tage im Voraus informiert. Am Vorabend um 17 Uhr werde der Ausfall straßengenau festgelegt.

Zugausfall und Ampelsignale

Die Unterbrechung soll maximal zwei Stunden dauern und sich auf die Spitzenkonsumzeiten von acht bis 13 sowie von 18 bis 20 Uhr beschränken. Die Hauptbetroffenen sind Büros und Häuser, von denen in Frankreich zwei Drittel elektrisch geheizt werden. Öffentliche Ämter und Schulen würden in dem Fall am Morgen geschlossen. Das Eisenbahnnetz bliebe zwar am Netz, nicht aber die Signalanlagen. Laut dem Bahnbetreiber SNCF dürften deshalb viele Züge ausfallen. Genauso wie die Ampeln im Straßenverkehr.

Problematisch wird es, da auch die Kommunikationsnetze inklusive Notrufnummern von Polizei, Feuerwehr und Rettung unterbrochen würden. Die Regierung behauptet, die generelle Notnummer 112 werde in Betrieb bleiben, doch Energieexperten zweifeln daran. Die Direktorin des Handynetzbetreibers Orange, Christel Heydemann, räumte ein: "Wir wissen nicht, wie sich das Telekomnetz verhalten wird."

Wohnviertel ausgenommen

Ausgenommen vom verordneten Blackout sind die Wohnviertel mit Spitälern, Gefängnissen, Polizeiwachen und Feuerwehrkasernen. Wer in ihrer Nähe wohnt, entgeht also dem Blackout. Die ganze Innenstadt von Paris – wo solche Dienste verdichtet vorkommen – dürfte deshalb keine Stromunterbrechung erleiden. Auch die Insel Korsika, die ihren Strom aus Italien bezieht, bliebe verschont. In allen anderen Landesgegenden gab es am Donnerstag erste Anzeichen von Hamsterkäufen für Kerzen. Und nicht nur für Weihnachten. (Stefan Brändle, 1.12.2022)