Die handtellergroßen Körper der Wollhandkrabben sind akkurat durch die Mitte geteilt, sie baden in einem Öl mit mehr als großzügig administrierter Würzung aus Sichuanpfeffer, Chili, Ingwer und etlichen Aromaten und sind – gut bei Zungenhitze – mit Gurkensticks garniert. Die Krabben haben ein hinreißend zartes Aroma, das sich auch durch das Getöse des Gewürzöls mitteilt. Und sie haben, weil es offenbar durchgängig Männchen sind, die namensgebende wollige Behaarung an den Scheren.

Ziemlich unglaubliche chinesische Küche, deren Magie sich, wie stets, nur in großer Runde so richtig mitteilt.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Wofür die in freier Natur gut ist? Keine Ahnung. Im Topf jedenfalls saugt sie sich ganz herrlich mit der Mischung aus scharfem Öl und Krabbensäften an. Und das Gefühl, sanft und doch fortgesetzt an diesen Knäueln zu nuckeln, bevor man dann daran geht, die Schere zu knacken und das weiße, blätternde Fleisch herauszuzuzeln und zu lösen, hat schon bewusstseinserweiternde Qualität. Die Kombination aus elektrischer Sichuan-Schärfe, Chili-Hitze, salzig-sauer fermentierter Frische und, ganz generell, herrlich harmonischer Überwürzung saugt sich wie ein Ding aus anderer Welt durch die Schleimhäute in der Lippen-, Mund- und Nasengegend, bringt sie zum Pulsieren und zum Gieren nach mehr. Im Hirn macht sich nach anfänglichem Alarmismus ("Was schmeckt denn da sooo arg?") schnell Umamiglück und überdosisindizierte Gewürzseligkeit der köstlich depperten Art breit.

Von Jiangxi nach Wien

Das Essen in dem kleinen, mit Tischen eng gestellten Restaurant ist mitunter sehr wild in der Wahrnehmung, aber durchwegs freundlich und zugänglich, wenn man es gewähren lässt. Grandmother Food ist der Name dieses magischen Ortes, der neben einem Bordell in der äußeren Burggasse Platz gefunden hat. Bekocht wird er von Li Yi Rou. Die junge Frau ist gerade einmal 27 und keineswegs Großmutter, sondern die Tochter des Hauses. Für sechs Jahre wurde sie, so der im Service beschäftigte Vater, nach Jiangxi zur Verwandtschaft geschickt, um bei einem zertifizierten Küchenmeister in die Geheimnisse der Küche eingeweiht zu werden. Und so gibt es seit Anfang des Jahres das wohl erste Restaurant dieser südöstlichen Region des Reiches in Wien.

Eine Geschmacksexplosion der besonderen Art – inklusive Chilischärfe und löffelweise Knoblauch.
Foto: Gerhard Wasserbauer

"Die Küche von Jiangxi zeichnet sich durch Geschmacksextreme aus, die sich auf den starken Einsatz von Chili und eingelegten oder fermentierten Nahrungsmitteln zurückführen lassen", schreibt Wikipedia. Geschmacksextreme, das bringt es auf den Punkt, ein sehr angenehmer Abend ist es aber auch. Vater Lee Thi Hook wurde in der chinesischen Diaspora in Kalkutta geboren und ist ein engagierter Gastgeber, Mutter Liu Yan hilft in der Küche wie im Service mit, die Großmutter gibt es nur daheim in China und im Namen des Restaurants. "Weil meiner Tochter die Küche ihrer Großmutter so geschmeckt hat, wollte sie Köchin werden", erklärt der Vater.

Deutlich ärger

Dass es Hot Pot ebenso gibt wie Mapo-Tofu oder doppelt geschmortes Schweinefleisch (das sich als Ansammlung dunkel lockender, schon vom Anschauen herrlich schmelzender Ildefonsos von unwirklich zarter Geilheit präsentiert), dürfe aber keinesfalls zur Verwechslung mit der Sichuan-Küche führen, insistiert er. Stimmt auch: Sie ist zwar ebenso chiliverliebt und vermag dennoch den Eigengeschmack der Speisen zu betonen, die Würze ist aber deutlich ärger: mehr roher Knoblauch (bei den großartigen Melanzani mit Faschiertem gut vier gehäufte Esslöffel, liegt aber oben drüber), mehr fermentiertes Senfgemüse, mehr Scharf, mehr alles.

Neben dem Schweinebauch dürfen die Venusmuscheln, frisch aus dem köstlichen Höllenfeuer des Woks, der Graskarpfen mit Sichuanpfeffer, Kreuzkümmel und Knoblauchsprossen, der vergleichsweise subtile Mapo-Tofu oder die völlig durchgeknallten Schwarzsesam-Mochis auf geröstetem Sauerkraut als Trägerraketen der Wahl gelten, um sich in eine ferne Welt voll arger Köstlichkeit aufzumachen. Und der Rest? Wird laufend ausprobiert! (RONDO, Severin Corti, 16.12.2022)