In China und anderen asiatischen Staaten boomt Live-Shopping.

Foto: Getty Images/iStockphoto

Man könnte meinen, dass mit dem langsamen Aussterben des linearen Fernsehens auch medientypische Formate zugrunde gehen. Doch so wie der ORF-Teletext in einer, durchaus erfolgreichen, Smartphone-App überdauert, ist auch das Teleshopping nicht totzukriegen.

Dieses lebt als sogenanntes Live-Shopping im Internet weiter. Das Konzept ist dem althergebrachten Teleshopping ähnlich: Vor der Kamera werden in heimeliger Atmosphäre Produkte präsentiert. Nur sind es beim Live-Shopping oft Influencer, welche die Vorteile des Pullovers oder der Kaffeemaschine hervorheben. Kundinnen und Kunden müssen zudem nicht erst zum Telefon greifen, um nicht ein, nicht zwei, sondern drei Artikel zum Sonderpreis zu erstehen – sie haben dieses bereits in der Hand.

Shopping direkt auf Social Media

Denn meistens findet Live-Shopping direkt am Smartphone statt. Gekauft wird direkt in der Social-Media-App, die Website des Händlers wird gar nicht mehr aufgerufen. Vor allem in Asien boomt diese Art des Einkaufens. Allein in China hat sich der Umsatz mit Live Shopping im vorigen Jahr auf 327 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt.

Cordula Cerha wundert es nicht, dass Live-Shopping ausgerechnet während Corona boomt. Sie forscht am Institut für Retailing and Data Science der Wirtschaftsuniversität Wien. "Auch das klassische Teleshopping ist in einer Zeit großgeworden, als viele Frauen ihre Nachmittage noch zu Hause verbracht haben", sagt Cerha. "Das war eine Möglichkeit, um dem Alltag zu entfliehen." Deshalb sei es nur logisch, dass während der Lockdowns, die in China teilweise noch anhalten, viele Menschen Zuflucht in den Livestreams suchen.

Auch in Europa versuchen sich immer mehr Unternehmen an dem neuen Shopping-Trend – darunter Peek und Cloppenburg, Ikea oder Bipa. Mitte Dezember will auch Nespresso Österreich seine erste Live-Session mit "Coffee Ambassadors" starten, mit Amazon Live ist auch der weltgrößte Versandriese schon länger im Geschäft.

Tiktok zieht sich wieder zurück

Auch Facebook und Tiktok führten auf ihren Plattformen Funktionen für Live-Shopping ein – und haben diese erst kürzlich wieder eingestellt. Der Grund: zu wenig Interesse. So ganz scheint sich die Idee in Europa nicht durchsetzen zu wollen.

"Der Markt ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben", sagt Marketingexpertin Cerha. Das hat mehrere Gründe. Zum einen könne man den Einzelhandel in Europa nicht mit jenem in China vergleichen. Dort sei die Entwicklung vom kleinen, Inhaber-geführten Geschäft im Zeitraffer Richtung Onlinehandel gegangen, während in Europa noch immer Handelsketten mit stationären Geschäften stark vertreten sind. Diese erfüllen eine wesentliche Funktion des Shoppings: sozialer Austausch. Den gab es bereits auf den Marktplätzen der Antike.

Im Online-Shopping, das in China besonders stark verbreitet ist, fehlen diese Gefühle. Digital wird deshalb eher gezielt gekauft. Das ist für Händler ein Problem: So gibt es online etwa deutlich weniger (lukrative) Impulskäufe als in Einkaufsstraßen oder in Shoppingzentren. "Der Handel lebt aber vor allem davon, uns Produkte zu verkaufen, die wir nicht brauchen, die aber unsere emotionalen und hedonistischen Bedürfnisse befriedigen", sagt Cerha.

Zwiespalt für kleine Geschäfte

Deshalb setzt Live-Shopping auf Emotionen und Bindung – etwa zu prominenten Influencern, die in der Regel an den Umsätzen beteiligt werden. Dort hat auch das klassische Teleshopping im Fernsehen angesetzt. Man denke nur an den Fernsehkoch, der angibt, das feilgebotene Messer auch privat einzusetzen.

Für kleine Unternehmen ist Live-Shopping "Chance und Gefahr" zugleich, wie Cerha sagt. Einerseits könnten auch Geschäfte außerhalb der teuren Innenstadtlage neue Kundschaft erreichen – wenn sich nicht wieder große Konzerne als Gatekeeper durchsetzen. Das sei im klassischen Onlinehandel passiert, wo inzwischen mehr User ihre Produktsuche auf Amazon statt auf Google starten. Diesen Marktzugang lässt sich der Versandriese von Händlern bezahlen. In Zukunft könnte eine Social-Media-App die Hand aufhalten – wenn sich das Konzept in Europa doch noch durchsetzt. (Philip Pramer, 13.12.2022)