Kondensatoren werden in nahezu allen elektronischen Geräten eingesetzt und finden auch in etlichen elektrischen Anlagen Anwendung. Die Bauteile selbst bestehen aus dielektrischen Materialien.
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In der Pharmazie nimmt künstliche Intelligenz schon seit längerem einen Fixplatz ein: Dort wird sie eingesetzt, um die Entwicklung neuer Medikamente zu beschleunigen. Dieses Prinzip will auch die Materialwissenschaft nutzen und Methoden des Maschinenlernens zur schnelleren Entwicklung neuer Materialien einsetzen.

Comet-Projekt für die Materialwissenschaft

Mit den Pharmazeuten vergleichen will sich Jürgen Spitaler vom Materials Center Leoben (MCL) aber dennoch nicht: "Da wird mit Big Data gearbeitet. So viele Daten haben wir in der Materialwissenschaft nicht", sagt der Leiter der Gruppe Atomistic Modelling am MCL. Nichtsdestoweniger: Maschinelles Lernen wird eine Schlüsselrolle im neuen Projekt MCacceL spielen.

Dabei handelt es sich um ein Comet-Projekt, das auf die Dauer von fünf Jahren angesetzt ist und das von Spitaler geleitet wird. Beteiligt sind neben dem Materials Center Leoben auch die Montanuniversität Leoben, die Technische Universität Wien, die Königlich Technische Hochschule Stockholm und die Universität Vancouver. Die Fördermittel stammen vom Klimaschutzministerium und Wirtschaftsministerium.

Große Zeitersparnis

"Wir wollen die Entwicklung neuer Materialien mit dem Einsatz von Methoden des maschinellen Lernens deutlich beschleunigen. So, wie wir es angelegt haben, ist das weltweit einzigartig", sagt Spitaler. Zwar gibt es in Deutschland bereits die Plattform Material Digital, die Wissen und Daten aus der Materialwissenschaft digitalisiert und kuratiert, um all das maschinenlesbar zu machen. "Unser Projekt geht darüber aber hinaus. Wenn es funktioniert, könnte die Materialentwicklung um den Faktor zehn beschleunigt werden", erklärt er.

Statt Monate und Jahre soll die Entwicklung im Idealfall nur noch Wochen oder Tage in Anspruch nehmen. Ausgangsbasis für das 3,5 Millionen Euro schwere Projekt sind zwei spezielle Materialklassen. An diesen Use-Cases möchte das Projektteam demonstrieren, wie eine neue temporeiche Materialentwicklung funktionieren könnte. Material eins sind sogenannte bainitische Stähle. Diese zeichnen sich durch besondere Zähigkeit und Festigkeit aus und weisen eine charakteristische Mikrostruktur auf, die während der Wärmebehandlung entsteht. Material zwei sind sogenannte dielektrische Materialien, deren Atomgitter in Form von Doppelpyramiden – fachsprachlich Perowskite genannt – angeordnet sind.

Sie kommen in elektronischen Bauteilen, etwa in Kondensatoren, zum Einsatz und "sollen die Energieverluste bei der Umwandlung von Gleich- in Wechselstrom erheblich reduzieren", sagt Spitaler. Würden die verbesserten Materialien etwa in der E-Mobilität verwendet werden, wäre das auch ein Beitrag für längere Reichweiten und somit für mehr Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit. Nun gilt es, neue und verbesserte Rezepte für Material-Weiterentwicklungen schneller herauszufinden. Und genau dabei soll künstliche Intelligenz helfen.

Neue Mixtur im Soforttest

Sie soll die Datenbanken, die derzeit zusammengeführt und durchgängig maschinenlesbar gemacht werden, so durchforsten, dass sie aus den Millionen an neuen Mixtur-Möglichkeiten zuerst die erfolgversprechendsten vorschlägt. "Der Mensch gibt die Parameter vor, die Auswahl soll die künstliche Intelligenz treffen", sagt Spitaler. Dazu haben die Forschenden bei MCacceL einen iterativen, also einen sich wiederholenden, Prozess geplant. Geplant sind jeweils zehn Versuchsreihen, in denen parallel vier bis fünf Rezeptvorschläge getestet werden. Nach Herstellung jeder neuen Mixtur wird das neue Material getestet – und die Datenbank mit den neuen Daten rückgefüttert. Die Software soll die nächste Mixtur dann bereits unter Berücksichtigung der jeweils aktuellsten Testdaten vorschlagen.

"Wir erwarten uns, dass durch die Methode des maschinellen Lernens erfolgversprechende Rezeptvorschläge aus dem sogenannten Dunkelbereich erfolgen", sagt Spitaler. Das könne man sich so vorstellen wie eine Intelligenz, die etwas über den Weinbau in Österreich lernen würde. Durchforstet sie Österreich von West nach Ost, wird sie zuerst lernen, dass im Osten des Landes der Wein angebaut wird.

AI für optimierten Weinanbau

Werden die verfügbaren Daten genauer analysiert, kann die künstliche Intelligenz entlang der Donau die besten Weinanbaugebiete erkennen. Die Software bleibt dann aber nicht stehen, sondern schaut auch in den Dunkelbereich nach Norden und Süden. "In der Südweststeiermark lernt sie, dass auch dort bester Wein wächst – ohne Donau." Ein solcher Ablauf wird auch als Active Learning bezeichnet.

Verbesserte Rezepturen aus noch unbekannten Dunkelbereichen sollen gleichzeitig mit materialwissenschaftlich-physikalischem Expertenwissen verknüpft werden und so die Möglichkeit des hybriden Modellierens ermöglichen: "Es gibt viel Wissen und Formeln, die das Materialverhalten schon allgemein beschreiben, etwa Zusammenhänge von Zähigkeit, Festigkeit oder das Verhalten bei Wärmebehandlungen", erläutert Spitaler.

Das perfekte Material

Dieses hybride Modellieren mit exotischeren Rezepturen aus dem Dunkelbereich könnte unter Umständen einen besonderen "Glückstreffer" ergeben und ein "Traummaterial" finden. "Es besteht trotz allem noch ein Risiko des Scheiterns", sagt er. "Aber es ist kleiner als ohne Einsatz von künstlicher Intelligenz." MCacceL ist wegen des erhöhten Risikos als strategisches Comet-Projekt angelegt und wird ohne die Beteiligung von Industriepartnern durchgeführt.

"Wir wollen die Grundlagen schaffen, um anwendungsorientierte Industrieprojekte überhaupt zu ermöglichen." So will man jedenfalls innerhalb von fünf Jahren 100 bis 200 neue Materialrezepturen für bainitischen Stahl und Perowskit-Materialien testen. Und was, wenn das Projekt endet und dabei keine Traum-Materialien gefunden wurden? "Dann haben wir dennoch viel gelernt und eine funktionierende Plattform mit maschinenlesbaren Daten für weitere Versuche und Materialdesign-Projekte", sagt Spitaler. (Norbert Regitnig-Tillian, 27.12.2022)