Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.

Foto: Yasin AKGUL / AFP

Ekrem İmamoğlu tauchte vor gut drei Jahren praktisch wie aus dem Nichts auf der türkischen Politikbühne auf. Der heute 52-Jährige war in der Politik praktisch ein unbeschriebenes Blatt, als seine Partei, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, ihn im Frühjahr 2019 zum Kandidaten für das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters kürte.

Bis dahin war er Bezirksbürgermeister des Satellitenvorortes Beylikdüzü im Westen der Stadt, eigentlich kein Platz, von dem aus man eine erfolgreiche Politikkarriere startet. Offenbar hatte die CHP kein Schwergewicht der Partei für die Kandidatur gewinnen können, da die Sache als ziemlich aussichtslos galt. Istanbul war seit den 1990er-Jahren fest in der Hand der Religiösen, und Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte mit dem früheren Ministerpräsidenten Binali Yıldırı m einen bekannten Politiker als AKP-Kandidaten nominiert.

Doch İmamoğlu überraschte bereits mit einem engagierten Wahlkampf, in dem er erkennen ließ, dass er ganz heterogene Gruppen anzusprechen vermag. Er hatte das Zeug zum Volkstribun, am Wahlabend kam dann die große Überraschung: Nach Auszählung der Stimmen lag İmamoğlu spät in der Nacht knapp vor Yıldırım. Erdoğan soll getobt haben. Auf seinen Druck hin annullierte die Wahlkommission das Ergebnis und ordnete eine Wiederholung der Wahl an.

Erfolgreiche Mobilisierung

Jetzt zeigte İmamoğlu, dass er wirklich ein Vollblutpolitiker ist. Er mobilisierte so erfolgreich, dass er auch die Wahlwiederholung trotz aller Versprechungen und Tricks der AKP mit großer Mehrheit für sich entschied.

İmamoğlu, verheirateter Vater dreier Kinder, war plötzlich der Shootingstar, der praktisch über Nacht zum größten Rivalen des Dauerregenten Erdoğan wurde. Er kann genauso mitreißend reden wie Erdoğan, er wirkt ihm gegenüber aber jung, modern und frisch. Er hat sich geschickt das Image verschafft, sowohl für religiöse wie auch für rebellische Kurden wählbar zu sein. Einige werfen ihm zwar vor, in der Kommunalpolitik Fehler gemacht zu haben und zu oft durchblicken zu lassen, dass er sich durchaus zu Höherem berufen fühlt. Doch seiner Popularität in Istanbul tat das im Großen und Ganzen keinen Abbruch.

Seit Erdoğan ihn mit dem Gerichtsurteil nun auch noch zum Opfer der Herrschenden gemacht hat, dürften seine Chancen, zunächst Präsidentschaftskandidat zu werden und dann auch Wahlgewinner im kommenden Jahr zu sein, noch gestiegen sein. (Jürgen Gottschlich, 15.12.2022)