Lionel Messi am Ziel.

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Am Sonntagabend hat der Fußball Lionel Messi etwas zurückgegeben. Dieser Bub aus Rosario, der den Sport nur dank glücklicher Fügungen und rechtzeitiger Gabe von Wachstumshormonen bereichern konnte, hat mit seinen magischen Dribblings, unbegreiflichen Pässen und malerischen Schüssen den Offensivfußball vollendet. Nun hat der Fußball Messi vollendet.

VIDEO: Nach dem Sieg im WM-Finale gegen Frankreich feiern die argentinischen Fans bis in den Morgen.
DER STANDARD|AFP

Als Messi als erster Elfmeterschütze seiner Argentinier zum Punkt trottete, hing alles in der Schwebe, das er bisher geleistet hatte. Dieser 35-Jährige hat sein Leben damit zugebracht, eine Karriere wie einen Monet zu malen. In insgesamt 136 rauschhaften Spielminuten hatte er zuvor noch ein paar meisterliche Pinselschwünge auf das Tapet gedrückt, mit zwei Toren seine Signatur eingraviert. Jetzt würde er dieses Kunstwerk entweder gülden einrahmen – oder in Salzsäure baden.

Er traf. Ja, Er traf! Natürlich traf Er, irgendwo muss es in grässlichen Zeiten voller Toter, Leid und Hass ja auch noch Gutes geben. Nicht nur STANDARD-Redakteure und das versammelte Forum schrieben vor dem Finale: Das Hirn mag Frankreich flüstern, aber das Herz schreit Argentinien. Hundertmillionen, vielleicht sogar Milliarden von Buenos Aires bis Kerala fühlten in diesen Minuten miteinander.

Der kleine Lionel als großer Verbinder. Dass der Ausgang nicht mehr an Messis sonst so allmächtigen Füßen hing, machte dieses WM-Finale noch schicksalshafter. Auch Kylian Mbappé hatte seinen Elfer getroffen, nun waren die Kollegen dran. Nebendarsteller, die in der Geschichte des ganz Großen vielleicht das letzte Wort haben könnten.

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Manchmal ist das, was nicht passiert, wichtiger als das, was passiert. Opa Lionel wird sicher auch noch im höheren Alter freudig an diesen Abend im Lusail-Stadion zurückdenken, wenn er seinen Enkelkindern zum 24. Mal seine Lieblingshologramme vorführt.

Aber man stelle sich vor, das Elferschießen, dieser grausame Scharfrichter, wäre zugunsten der Franzosen gekippt, womöglich sogar noch mit einem verschossenen Penalty des Jahrhundertspielers. Tausende Zeitungen hätten mit "Der Unvollendete" titeln müssen.

Der klebrige Grind des "Es war nicht genug" hätte diesen so einmaligen Fußballer auf ewig überzogen. Ja ja, er vollbrachte im Spaziermodus Unvorstellbares, er verschob die Grenzen des Möglichen, er ließ Diego Maradona auf dem Spielfeld auferstehen und überflügelte ihn, aber damals, da haben seine Mitspieler eben einen Elfer zu wenig ins Tor geschossen. Wäre das unfair gewesen!

Vielleicht strömte neben Glück und Zufriedenheit auch deshalb eine beneidenswerte Erleichterung aus Messis Poren. Während bei seinen Gratulanten die Tränen rannen, grinste der Mittelpunkt der Fußballwelt einfach nur. Da stand ein Mann, der wusste: Ich kann nicht mehr verlieren. Ich kann mich auf einen Thron setzen, an dem nie jemand sägen wird. Ich kann sogar im Sommer zu Inter Miami wechseln, wenn mich die Champions League nicht mehr freut.

Vor dieser Erleichterung mussten Messi und seine Jünger leiden. Und das, obwohl Lionel Scalonis Plan perfekt aufgegangen war – immer wieder hatte der endlich genesene Ángel di Maria freie Räume auf dem linken Flügel ausgekostet. Eine Halbzeit lang schien nur Argentinien auf dem Platz zu sein, noch in der 79. Minute war Frankreich mausetot und mit einem 0:2 gut bedient. Dann schenkte Abwehrchef Nicolás Otamendi einen Elfer her, keine Minute nach dem Penalty versenkte Mbappé einen Volley zum Ausgleich im langen Eck und erzwang die Verlängerung.

Natürlich war es wieder Messi, der in der 108. Minute einen bestechend sauber gespielten Angriff zum 3:2 vollendete. Natürlich war es wieder Mbappé, der nach einem Handspiel von Gonzalo Montiel per Strafstoß ausglich. Es war ein verdammtes Fußballfest. Sogar in der Nachspielzeit der Verlängerung suchten die erschöpften Giganten die Entscheidung, es waren bange, packende, beglückende Minuten, deren Bedeutsamkeit auch die Venen der unbefangensten Zuschauer überflutete.

Quasi mit dem Ende des atemlosen Marathons ließ Randal Kolo Muani den Unvollendet-Stempel über Messis Stirn schweben. Wenn in einem Fußballspiel in der 123. Minute ein Tor fällt, dann gibt es kein Zurückkommen mehr. Kolo Muani war auf und davon, hätte Frankreich schon wieder zum Weltmeister machen können – doch Argentiniens Goalie Emiliano Martinez streckte sein linkes Bein weg und raubte dem 24-Jährigen das 4:3. Manchmal ist wichtiger, was nicht passiert.

Also Elferschießen, also Mbappé, Messi, Kingsley Coman, nein halt, Emi Martinez! Der Goalie parierte Frankreichs zweiten Versuch, Aurelien Tchouaméni schoss den dritten vorbei. Da Paulo Dybala, Leandro Paredes und Handspielsünder Montiel ihre heilige Pflicht taten, war Argentinien zum dritten Mal Weltmeister.

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Es war mehr als Hollywood. König Fußball, diese launische Sphinx aus kindlichem Spiel und bitterem Ernst, hatte seinem Hofstaat alles abverlangt. Fans, Betreuer, Spieler lagen zumindest geistig darnieder, sogar der unfehlbare Schiedsrichter Szymon Marciniak atmete durch. Was war da gerade passiert? Historisches. "Ich hatte das Gefühl, dass es so sein würde. Ich werde das jetzt genießen", sagte Messi, und: "Schau, wie schön der Pokal ist. Er ist wunderbar."

Es wäre auch wunderbar, diesen Text hier beenden zu können. Aber bei der Pokalübergabe sahen sich der WM-Ausrichter Katar und sein Kompagnon Gianni Infantino dazu berufen, den Schlusspunkt zum Schlusspunkt zu setzen. Der Fifa-Präsident zwang Messi auf dem Weg zu seiner Mannschaft unangenehm enge Manndeckung auf, der Emir hängte dem Jubilar einen Bischt um. Der katarische Umhang überdeckte das ikonisch himmelblau-weiße Trikot. Selbst wenn sich der größte Fußballer seiner Generation krönt, drängten die Organisatoren und Bühnengeber ins Rampenlicht. Auf den ersten Pokalfotos trägt Messi nun Schwarz, aber in den Geschichtsbüchern wird die katarische Chuzpe maximal eine Randnotiz sein. Denn es war der Abend, an dem der Fußball Lionel Messi die Vollendung schenkte. (Martin Schauhuber, 19.12.2022)