Die Aktenberge wachsen, Wiens Bezirksgerichte suchen händeringend Personal, vor allem nichtakademisches.

Foto: Regine Hendrich

Mit einem alarmierenden Schreiben haben sich die Vorsteherinnen und Vorsteher aller 13 Wiener Bezirksgerichte im November an ihre Vorgesetzten inklusive Justizministerin Alma Zadić (Grüne) gewendet. In ihrer Notstandsmeldung beschreiben sie die steigende Personalnot an ihren Gerichten, die vor allem in den Kanzleien und im Bereich der Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger sowie mitunter in Exekutionsabteilungen herrsche. Wie in beinahe allen Wirtschaftszweigen tun sich die Zuständigen immer schwerer, Personal zu finden. In erster Linie geht es um Leute, die in den Kanzleien arbeiten, und um anderes nichtakademisches Personal. Zwar gibt es genug offene Planstellen, die ließen sich aber kaum noch besetzen – beziehungsweise wenn, dann oft nur für kurze Zeit.

Ein Problem, das die Zuständigen vor allem adressieren: Die Kanzleimitarbeiterinnen bilden immer wieder Leute aus; kaum sei das geschehen, wanderten die Neuen aber auch schon wieder ab. Vor allem zu Zoll- und Finanzämtern – was daran liegen dürfte, dass diese um bis zu 500 Euro im Monat mehr zahlen. Die Finanz kann nämlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter höher einstufen, indem sie ihnen die "Entscheidungsvorbereitungsbefugnis" zuerkennt. Diese Beschäftigten dürfen bestimmte Entscheidungen in Akten vorbereiten und verdienen dafür auch mehr Geld. In der Justiz gibt es diese Möglichkeit nicht.

Demotiviertes Personal

"Unser System funktioniert nicht mehr: Wir bilden ununterbrochen Leute aus, die dann wieder abwandern. Das ermüdet und demotiviert jene, die sich neben ihrer eigenen Arbeit um die Ausbildung der Neuen kümmern", schildert eine Juristin. Zum Teil gebe es auch Konkurrenz aus der eigenen Branche, wie es heißt. Gutausgebildetes Personal wandere von den Bezirksgerichten ins Justizministerium oder zu Rechtsanwalts- und Notariatskanzleien, wo es mehr zu verdienen gebe.

Die anstehende Pensionierungswelle der 1960er-Generation verschärft die angespannte Situation noch, an manchen Gerichten funktioniere nur noch eine Art Notbetrieb, beklagen Involvierte. Erfahrene Kanzleileiterinnen, die ihr Wissen weitergeben könnten, verlassen die Justiz aus Altersgründen, erklären die Zuständigen aus den Wiener Bezirksgerichten in ihrem Brief vom 23. November. Sie schlagen daher beispielsweise vor, die Möglichkeit zu schaffen, dass Pensionistinnen und Pensionisten zumindest ein paar Stunden in der Woche weiterbeschäftigt werden können, damit sie sich der Einschulung der Neuen widmen können. So wäre beiden Seiten geholfen, wie es heißt.

Planstellen bleiben unbesetzt

"Die Leute laufen uns davon, unsere Planstellen können wir nicht besetzen, und die, die dableiben, sind ausgebrannt", fasst ein Involvierter seine Sicht der Dinge zusammen. Dabei warne man seit Jahren vor dem drohenden Personalnotstand, die demografische Entwicklung sei ja bekannt gewesen. Alle hätten zugeschaut, und das Ministerium habe zu wenig gegengesteuert. Nachholbedarf sehen die Zuständigen von Wiens Bezirksgerichten auch bei den Arbeitsbedingungen. Da bei weitem noch nicht alle Gerichte per elektronischem Akt digitalisiert sind, gebe es etwa Grenzen fürs Homeoffice – auch das halte viele von Jobs in der Justiz ab. Das gilt in Wien vor allem in Außerstreit-Kanzleien, wo viele Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger fehlen und der elektronische Akt erst bis 2025 umgesetzt wird.

Unter Österreichs Bezirksgerichte haben jene in Wien die größten Probleme, im Schnitt gebe es 40 offene Planstellen, für die sich niemand finde, wie es heißt. Und das, obwohl man bereits die Auswahlkriterien runtergeschraubt habe.

Ministerium kalmiert

Und was sagen die Adressatinnen und Adressaten des Schreibens dazu? "Wir kennen diese Personalprobleme vor allem im Kanzleibereich, die auch eine Folge der Sparpolitik in der Justiz bis 2019 und der gegenwärtigen Lage des Arbeitsmarkts sind", kommentiert Katharina Lehmayer, Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, das Schreiben. Allerdings sieht sie die Justiz als "attraktiven" Arbeitgeber und verweist darauf, dass per Jänner 2023 auch die Einstiegsgehälter angehoben werden.

In dieselbe Kerbe schlägt das Justizministerium. Die "herausfordernde Personalsituation an den Wiener Bezirksgerichten" sei bekannt, und es würden "laufend Maßnahmen zur Verbesserung gesetzt". Auf Anfrage des STANDARD verweist ein Sprecher auf knapp 70 zusätzliche Planstellen für 2023 (davon 18 für juristische Mitarbeiterinnen an Gerichten und zehn für die Ausbildung von Rechtspflegerinnen und Bezirksanwälten). Zudem habe man zahlreiche Attraktivierungsmaßnahmen gesetzt, etwa flexiblere Gleitzeitregelungen oder erweiterte Möglichkeiten fürs Homeoffice. Auch dem Wunsch der Leiterinnen und Leiter der Bezirksgerichte, Pensionistinnen weiter einsetzen zu dürfen, stehe man offen gegenüber.

Personalsuche im Kino

Und wie will man neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden? Da verweist das Ministerium in seiner Antwort auf eine bundesweite Recruiting-Kampagne via Social Media, diversen Werbeflächen und Infoscreens der öffentlichen Verkehrsmittel – und auf Werbespots in den Kinos.

Grundsätzlich gibt es aber offenbar höchst unterschiedliche Sichtweisen. Laut Justizministerium verbessere sich die Situation im Justizressort bei der Besetzung von Planstellen, speziell in Gerichten und Staatsanwaltschaften, stetig. (Renate Graber, 22.12.2022)