Silvester erinnert unweigerlich ans Älterwerden. Schon wieder ein Jahr vorbei. Das Alter ist eine unbarmherzige Zahl, die im Gefolge jeder Silvesterfeier unaufhaltsam ansteigt. Vielmehr als eine Zahl ist das Alter aber ein Gefühl. Es ergibt sich aus einer komplexen Gemengelage von Möglichkeiten und der jeweiligen Lebenswirklichkeit.

In unserem herkömmlichen Verständnis schließen Möglichkeit und Wirklichkeit einander aus. Etwas ist entweder möglich oder wirklich, aber nicht beides zugleich. Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit besteht zudem eine klare zeitliche Ordnung: Zunächst sind immer die Möglichkeiten – aus ihnen folgt die Wirklichkeit. Es zählt zu den großen Vorzügen der Wissenschaft, dass sie uns ermöglicht zu berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Möglichkeiten eintreffen werden.

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Wie sehr das Gefühl, jung zu sein, mit einem Übermaß an Möglichkeiten zu tun hat, beschrieb die Autorin Ingeborg Bachmann in ihrer Erzählung "Das dreißigste Jahr". Darin heißt es: "Nie hat er gedacht, dass von tausendundeiner Möglichkeit vielleicht schon tausend Möglichkeiten vertan und versäumt waren – oder dass er sie hatte versäumen müssen, weil nur eine für ihn galt."

Leben wir im Multiversum?

Jahresende, Älterwerden, verlorene Möglichkeiten: All das klingt äußerst ernüchternd. Es sei denn, eine physikalische Theorie lehrt uns, dass unser herkömmliches Verständnis von Möglichkeit und Wirklichkeit falsch und eigentlich alles ganz anders ist.

Willkommen im Multiversum!

Mit der grundlegenden Idee, dass es neben dem uns bekannten Universum noch zahlreiche weitere Paralleluniversen gibt, ist die Theorie rasch skizziert.

Das Multiversum ist die Gesamtheit all dieser Paralleluniversen. Die mathematische Beschreibung ist äußerst komplex. Der Umstand, dass es mehrere verschiedene Multiversum-Theorien gibt, macht alles noch komplizierter.

Eine dieser Multiversum-Theorien hat ihren Ursprung in ungelösten Fragen zu den Grundlagen der Quantenphysik. Keine andere wissenschaftliche Theorie ist präziser bestätigt und kommt häufiger zur Anwendung als die Quantenphysik. Dennoch bleiben ihre Grundlagen rätselhaft. So vermag die Quantenmechanik nicht zu beschreiben, was bei einer Messung vor sich geht.

Reinster Zufall

Dann wären da noch die äußerst merkwürdigen Überlagerungszustände: Laut Quantenphysik befindet sich etwa ein Elektron an mehreren Orten zugleich. Und dennoch, immer, wenn gemessen wird, findet sich das Elektron an einem bestimmten Ort, nicht in einer Überlagerung von mehreren Aufenthaltsorten. Noch unangenehmer ist, dass sich dieser Ort nicht mit Sicherheit berechnen lässt. Das Elektron scheint sich spontan und rein zufällig zu entscheiden, wo es sich aufhalten will.

Vielen bereitet diese Vorstellung Unbehagen. "Der Gedanke, dass ein Elektron aus freiem Entschluss die Richtung wählt, in der es fortspringen will, ist mir unerträglich", stellte einst Albert Einstein fest. "Wenn schon, dann möchte ich lieber Schuster oder gar Angestellter einer Spielbank sein als Physiker."

Dem Zufall ein Schnippchen zu schlagen, das war der Vorsatz des US-amerikanischen Physikers Hugh Everett, als er in den 1950er-Jahren seine Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik entwickelte. Everett gelang es tatsächlich, das zufällige Verhalten von Elektronen wegzuargumentieren. Allerdings handelte er sich im Gegenzug nicht weniger als eine unendliche Anzahl an Universen ein.

Alles, was möglich ist

Folgt man Everett, ist unsere herkömmliche Vorstellung falsch, dass Möglichkeiten vor uns liegen, von denen jeweils nur eine Wirklichkeit wird. Vielmehr ist alles wirklich, was möglich ist – jedoch in unterschiedlichen Universen. Zwischen diesen parallelen Welten ist kein Informationsaustausch möglich, was auch der Grund ist, warum sich die parallelen Universen nicht beobachten lassen.

Um Überlagerungszustände von mehreren Möglichkeiten zu erklären, ist es laut Everett so, dass sich das Universum fortwährend spaltet und dadurch mehrere Universen entstehen, in denen jeweils alle Möglichkeiten irgendwo wirklich sind. Möglichkeit und Wirklichkeit stehen nicht länger in Opposition zueinander, sondern alles, was im Einklang mit den Naturgesetzen möglich ist, ist auch wirklich.

Diese Vorstellung relativiert so manches davon, was wir glauben, über die physikalische Wirklichkeit herausgefunden zu haben. Und sie setzt auch gute Vorsätze für das neue Jahr in ein anderes Licht: In den parallelen Welten existieren unzählige Versionen von uns Menschen – die, ohne voneinander zu wissen, jeweils ihr Leben leben. Und egal, was Sie sich vornehmen oder was Sie tunlichst vermeiden wollen, in irgendeiner Welt wird diese Möglichkeit Ihre Wirklichkeit.

Multiverse of Madness

Prominente Physiker wie Stephen Hawking, Brian Greene, Michio Kaku oder Max Tegmark haben sich auf die Seite der Multiversum-Theorie geschlagen. Auch in der Popkultur hat die Viele-Welten-Theorie ihren Niederschlag gefunden, etwa im Marvel-Film "Doctor Strange in the Multiverse of Madness" oder dem Science-Fiction-Drama "Everything Everywhere All at Once".

Die Theorie vom Multiversum lässt sich zwar nicht wissenschaftlich beweisen. Interessanterweise lässt sie sich aber auch nicht widerlegen. Sie kann wahr sein oder falsch. Wir wissen es schlicht nicht. Tatsächlich dürfte es äußerst schwierig sein, die Theorie des Multiversums zu falsifizieren. Wie der Kosmologe Paul Steinhardt einst in einem Aufsatz im Fachblatt "Nature" feststellte, könnte "kein Experiment eine Theorie ausschließen, die alle möglichen Ergebnisse zulässt".

Gymnastik fürs Gehirn

Geht es nach der Physikerin Sabine Hossenfelder, passt die Theorie vom Multiversum daher besser in die Popkultur als in die Physik: "Ich verstehe, dass die Theorie vom Multiversum in der Öffentlichkeit populär ist, es ist eine interessante Form von Gehirngymnastik", sagte sie zuletzt bei einer Diskussion zum Thema. "Ich mag auch Filme, die mit der Idee spielen, dass es viele verschiedene Versionen von mir gibt, die in parallelen Universen ihr Leben leben. Das Multiversum ist gute Fiktion, wir sollten das aber nicht mit Wissenschaft vermischen."

Solide Physik oder nur ein gutes G’schichtl – die Wissenschaft wird wohl noch Jahre oder Jahrzehnte brauchen, um diese Frage letztlich zu entscheiden. Zwar haben Vertreter des Multiversums in der Vergangenheit immer wieder beteuert, dass der Beweis unmittelbar bevorstünde – so auch jetzt –, jedenfalls in diesem Universum ist er aber bislang ausgeblieben. Die Widerlegung aber auch. So gilt es, bei Wünschen für das neue Jahr zu beachten: Die Möglichkeit, dass sie in Erfüllung gehen, ist intakt – in dem einen oder anderen Universum. (Tanja Traxler, 31.12.2022)