Am 2. November 2020, als im Trubel der letzten Nacht vor einem erneuten Corona-Lockdown plötzlich ein Terrorist in die Wiener Innenstadt rennt und vier Menschen tötet und 22 verletzt, sitzt Carl P. (Name geändert) noch als Beamter auf seinem Schreibtisch. Er will unbedingt helfen, etwas tun, doch er war wie so viele Menschen hilflos.

Mit einer Waffe wisse er mit Erfahrung in der Exekutive umzugehen, und auch die Sicherheit der Bevölkerung ist seine Berufung. "Das war der Moment, als mir klar wurde, ich möchte dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert", erinnert sich Carl P. zurück, als er heute in einem sterilen Raum mit künstlichem Licht seines neuen Arbeitgebers sitzt.

P. arbeitet für den Nachrichtendienst. Aufrecht und selbstsicher sitzt er für ein langes Gespräch bereit, seine zwei Smartphones perfekt angeeckt an die Tischkante – als könnte jederzeit jemand Alarm schlagen. Neben ihm eine Sprecherin des Nachrichtendienstes, alle sitzen wie im Befragungsraum der Kriminalpolizei.

Mitschnitt nur mit Stimmenverzerrer

Mit der Presse spricht P. zum ersten Mal. Es ist ein Novum, dass sich der Nachrichtendienst mehr an die Öffentlichkeit wagt. Die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) gibt es erst seit einem Jahr. Sie ist die reformierte Nachfolgerin des skandalverwobenen und aufgelösten Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Sie ist gänzlich auf nachrichtendienstliche Tätigkeiten spezialisiert.

International gilt Wien häufig als Hauptstadt der Spionage.
Foto/Illustration: Der Standard, Fatih Aydogdu

Spionage? Abhören? Wie P. genau vorgeht, darf in diesem Text nicht stehen. Zu hoch ist die Gefahr, seine Sicherheit zu gefährden. Das Treffen in dem fahlen Besprechungsraum kam unter ungewöhnlichen Bedingungen zustande. Normalerweise wissen Journalistinnen, wen sie interviewen werden. Diesmal ist es wie ein Blind-Date: Keine Information und kein Bild zu der Person vorab. Mitschnitt nur mit Stimmenverzerrer. Selbst in den Besprechungsraum zu gelangen war nicht einfach.

Strenge Kontrollen

Hohe Mauern trennen das Gebäude der DSN vom Wiener Außenleben, geklingelt wird bei "Anmeldung", keine weiteren Infoschilder. Eine Art Sicherheitszentrale, in Form einer kleinen Polizeiwache muss gekreuzt werden, bevor es reingeht. Ausweis abgeben, Smartphones, Tablets und Smartwatch kommen in einen kleinen Spind – für Besucher am Gelände nicht erlaubt.

Ein Mann macht den Sicherheitscheck mit Metalldetektor wie am Flughafen. Laptop inklusive Stimmenverzerrer-Software darf mit, ausnahmsweise. Eine Mitarbeiterin der Öffentlichkeitsarbeit begleitet zum nächsten Gebäude, sich alleine zu bewegen geht nicht. Für den nächsten Eingang braucht sie ihre Karte, kurz darauf eine Drehtür in einer eisernen Absperrung. Dahinter dicke Wände und fensterlose Gänge.

Für einen Augenblick verortet man sich bei der CIA. Man wird von einem grell erleuchteten runden Logo begrüßt. Es ist auf die Wand projiziert. Links und rechts der Projektion stehen demonstrativ zwei Flaggen, die der EU und Österreich. Blau-weiß und ein bisschen rot leuchtet die Schrift dem Gegenüber ins Gesicht: Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst.

Angst

Kurz darauf ist das Geheimnis um den Interviewpartner gelüftet, P. und seine Kollegin empfangen locker höflich an dem großen Tisch im Besprechungsraum. P. verrät sehr früh im Gespräch seine Funktion: Mit seinem Team zusammen klärt er international und national Strukturen und Netzwerke im islamistischen Terrorismus und Extremismus auf – immer einen Schritt voraus, bevor die Infos der Polizei übergeben werden. Ein mitunter gefährliches Milieu.

Wie gefährlich, kann P. kaum beschreiben. Er hält inne. Zum ersten Mal denke er darüber nach. "Die Frage ist, wie gefährlich wäre es, wenn ich meinen Job nicht mache?" Er gehe sensibel mit seinen Daten um, arbeite stets vorsichtig und verwendet rechtlich korrekte Ausdrücke. Ordnung und Struktur scheinen ihm wichtig zu sein.

Angst habe er nicht, die sei ein schlechter Treiber für den Job. "Man braucht Ruhe und Objektivität." Seine akademische Ausbildung führte ihn zur DSN, er stieg schnell auf. Seiner Familie und seinen Freunden erzählt er nicht viel, beschreibt seinen Job nur allgemein: "Ich arbeite in der Generaldirektion, mache Kriminaldienst, sage ich meistens."

Radikalisierung erkennen

Seine Aufgabe ist Gefahrenerforschung. Er will herausfinden, wo sich Menschen treffen, die, wie er erzählt streng religiös eingestellt sind und eine streng konservative Weltsicht haben. P. recherchiert, wo das vermehrt vorkommt und warum. Er versucht Strukturen aufzudecken, die radikales Gedankengut verbreiten oder Menschen, die echte Anschläge planen könnten.

"Ich suche nach dem schlechten Nährboden, der als Durchlauferhitzer für Radikalisierung dient." Dass er wie ein Detektiv hinter einem Busch observiert, ist aber ein Irrglaube. Anders als die CIA oder der Mossad ist die DSN rein für Informationsanschaffung da. Es werden keine eigenen Störaktionen oder Angriffe geplant.

Im internationalen Vergleich sei der österreichische Nachrichtendienst ein sehr kontrollierter. Jede Ermittlung muss genehmigt werden, die Mitarbeitenden dürfen sich nur im rechtlich erlaubten Rahmen bewegen. Es gibt eine Nachkontrolle und eine Kontrollkommission. "Gerade weil wir konspirativ sind, wird streng kontrolliert." Ein Rechtsschutzbeauftragter ist für die Ermächtigung da, wenn er zum Beispiel eine Person ohne dessen Wissens filmen möchte.

Frühwarnsystem funktioniert

P. hat keinen geplanten Tagesablauf, keine To-Dos die er abhakt. "Ungewiss bedeutet für mich, dass ich mich jeden Tag auf neue Herausforderungen einstellen muss. Ich muss schauen was passiert und mich danach richten." Teils beschreibt er sich ähnlich wie einen Journalisten. Er recherchiert, warum jemand den Islamischen Staat interessant findet, was genau überhaupt Salafismus bedeutet oder warum eine Religion so eine Anziehungskraft hat. P. vernetzt sich mit Soziologinnen, Politik- oder Islamwissenschaftern. Er reist in fast alle Gebiete der Welt. Gibt es irgendwo neue Unruhen oder Krieg, ist das für ihn relevant. Vor allem, wenn von dort Personen nach Österreich kommen. Sie könnten potenziell an Kriegshandlungen teilgenommen haben.

Privates trennt er komplett vom Beruf. In gewisser Weise nimmt er seinen Beruf aber mit nach Hause. Er reflektiert Geschehnisse und Ermittlungen, schaut Dokus über Religion. Man glaubt es ihm: der Job ist sein Hobby. Kann er damit jetzt, wie er wollte, zukünftigen Terror in Österreich verhindern? P. wird wieder rechtlich korrekt. Zu 100 Prozent könne man so etwas nie behaupten. Doch in den letzten Monaten gab es viele Ansätze und Züge, die er aufgedeckt und mit den Sicherheitsbehörden vernetzt hat. Es motiviert ihn, dass er als Frühwarnsystem funktioniert.

Am Ende des Gesprächs geht P. noch mit bis zum Ausgang. Er habe gern über seine Arbeit gesprochen, sagt er. Es ist nach 18 Uhr abends, doch er dreht sich wieder um Richtung DSN, an Feierabend sei noch nicht zu denken. Die Wege trennen sich. So wird der Kennengelernte schnell wieder zum Unbekannten. (Melanie Raidl, 9.1.2023)