Der Schiedsrichter steht vor Mario. In strengem Ton sagt er: "Mit der Spitze voran. Die Grundlinie nicht übertreten!" Mario nickt entschlossen. Er ist ein stämmiger, bärtiger Mann. Wäre er ein Baum, wäre er wohl eine Eiche. Mit beiden Händen packt er den 1,80 Meter großen Christbaum. Eine Hand greift die Mitte der Tanne, die andere das Ende des Stamms. Neugierig stehen die Zusehenden am Zaun. Alle Augen sind auf Mario gerichtet. Im Hintergrund läuft der indische Hit Mundian to Bach Ke von Panjabi MC. Der Rhythmus spornt Mario an: Er geht ein paar Schritte zurück, hält inne, nimmt Anlauf und wirft den Baum mit einem archaischen Schrei und voller Wucht nach vorn. Sieben Meter und 77 Zentimeter. Rekord.

In drei Kategorien konnte angetreten werden: Frauen, Männer und Kinder. Jede Kategorie hatte eigene Baumgrößen.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Erstes Event in Strasshof

Der Schauplatz ist Strasshof an der Nordbahn am siebten Jänner 2023. Es ist ein beschauliches Dorf in Niederösterreich, dreißig Minuten von Wien entfernt. Der Bär steppt hier eher selten. Vor allem jetzt, kurz nach Weihnachten, wenn alle ihrer Familien und der besinnlichen Zeit schon überdrüssig sind, ist normalerweise tote Hose. Damit ist jetzt Schluss, beschlossen fünf junge Burschen. 2021 gründeten sie den Verein SKV Wein4tler, um Events rund um Randsportarten zu organisieren. 2023 richteten sie den ersten Christbaum-Weitwurf-Wettbewerb aus.

Ganz neu ist die Idee allerdings nicht. Seit einigen Jahren mausert sich dieser Wettbewerb in verschiedenen Ländern zur festen Tradition. In England, Irland, der Schweiz, Deutschland und in Österreich finden sich einige Weihnachtsbaum-Weitwurf-Wettbewerbe. Wo diese ihren Ursprung haben, bleibt ein Rätsel. In Dänemark, Europas größtem Weihnachtsbaumexporteur, jedenfalls nicht. Auch nicht in Schweden, wie viele meinen. Zwar wird dort am 13. Jänner der sogenannte St.-Knuts-Tag gefeiert und der Baum aus den Wohnzimmern verbannt – Wurfwettkämpfe gibt es allerdings nicht. Ob ein Werbespot von Ikea aus dem Jahr 1996 und ein vom Unternehmen organisiertes Marketing-Weihnachtsbaumwurf-Event einen Einfluss auf die Verbreitung dieser Tradition hatten, ist schwer nachzuvollziehen.

Die Hände wurden am Punsch und den Feuertonnen gewärmt.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Zigarettenrauch und ein Hauch von Parfüm liegen in der Luft. Die Hände werden an Feuertonnen gewärmt. Manche bevorzugen die Hitze von innen: "Wer zehn Jägermeister kauft, bekommt ein Goldketterl – kein Schmäh!" Moderator Norbert ist Feuer und Flamme. Vier Stunden lang entertaint er die rund 300 Besuchenden des Spektakels: "Mario: Was ist dein Geheimnis? Wie bereitet man sich optimal auf den Wurf vor?", fragt er. "Ingwertee, Haferflocken und drei Wieselburger – das ist mein Erfolgsrezept", antwortet Mario. Plötzlich steigt ein neuer Wettkämpfer in den Ring: Christian, Typ Wikinger. Riesig, roter Bart, rot kariertes Holzfällerhemd. Er greift nach einem Baum. Ist Marios erster Platz in Gefahr?

Rekorde aus Deutschland

Am weitesten jemals schossen Christopher Milloth mit 23,90 Metern und Margret Klein-Raber mit 20,20 Metern bei der Weltmeisterschaft des Weihnachtsbaumwerfens. Diese wird seit 2007 jedes Jahr im Ort Weidenthal im Südwesten Deutschlands ausgetragen.In drei Kategorien kann man hier gegeneinander angetreten: im Hochwurf (über eine Stange), im Schleuderwurf (den Baum um sich schwingend und drehend wie beim Diskuswerfen) und im Weitwurf. Bei Letzterem ist die Technik ähnlich wie beim Speerwerfen oder Kugelstoßen. "Wir haben uns in Strasshof nur für die Weitwurftechnik entschieden. Sonst würden die Bäume, gerade zu späterer Stunde, vielleicht oft in der Zuschauermenge landen", erzählt Veranstalter Clemens Stuhr.

Gemessen wird die Wurfweite von der Grundlinie bis zur ersten Nadel.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Wikinger Christian wirft. Die Menge japst. Sie können ihren Augen kaum trauen. Die Schiedsrichter zücken ihr Messband und legen es von der Grundlinie bis zur ersten Nadel: "Acht Meter und siebenundachtzig Zentimeter!" Die Menge grölt und prostet Christian zu. Über einen Meter mehr als Mario – Platz eins. Jetzt ist der Ehrgeiz in allen geweckt. Frauen, Männer, Kinder stellen sich an. Jeder will sich messen. Insgesamt 100 Personen versuchen ihr Glück. Viele mehrfach.

Die Wurf-Nordmanntannen stellt der örtliche Christbaumhändler zur Verfügung. Es sind Restposten, die nicht verkauft wurden. "Sie müssen frisch sein, da sie sonst zu leicht zerbrechen. Und es müssen immer dieselben Bäume sein, damit jede und jeder die gleichen Chancen hat", sagt Stuhr. Der Wurf kostet einen Euro. Mit dem Erlös werden Jungbäume gekauft und im Dorf gepflanzt. Niederösterreich ist der passende Ort für diese neue Tradition. 55 Prozent der Anbauflächen der heimischen Christbaumproduktion (österreichweit rund 3500 Hektar) liegen hier. In Strasshof werden auch nächstes Jahr die Bäume fliegen. Und wer weiß: Vielleicht verbreitet sich der Trend in Windeseile.

Wer sich ein genaueres Bild der Stimmung und der Wurf-Technik machen möchte, kann das Video zum Beitrag anschauen. (Natascha Ickert, 9.1.2023)