Nein, auch wenn der "Doomsday-Glacier" völlig abschmelzen sollte, droht noch nicht der Weltuntergang. Aber der Meeresspiegel steigt dann schon einmal um bis zu 65 Zentimeter. Noch ungünstiger ist, dass dahinter der gesamte gigantische Westantarktische Eisschild in Bewegung geraten könnte, für den der Thwaites-Gletscher als eine Art gigantischer Stöpsel dient. Fließen diese Eismassen ins Meer, dann rechnet die Wissenschaft mit einem Anstieg um geschätzte 3,4 Meter – in dem Fall aber auch mit Zeiträumen von Jahrhunderten, die dieser Vorgang noch dauern wird.

Im Fall des Thwaites-Gletscher wird dieses Abschmelzen früher passieren – und leider schneller gehen, als die Wissenschaft bis vor kurzem annahm. Das liegt an der besonderen Lage der Eismassen. Die befinden sich in einem Becken, dessen meerseitige "Wand" unter dem Meeresspiegel liegt. Das große Problem: Relativ warmes Meerwasser kann über dieses unterseeische Vorgebirge in das Becken einströmen und den Gletscher von unten abschmelzen. Der kann dadurch – vereinfacht formuliert – ohne Eisverankerung im Becken umso leichter über diese Barriere ins Meer fließen.

Ein Eisberg als Bremsklotz

Gebremst wird das Abfließen aber nicht nur durch diese unterseeische Barriere, sondern auch durch das Schelfeis vor dem Gletscher. Das hatte in den letzten Jahren noch einen zusätzlichen Stabilisator: einen riesigen Eisberg, der im März 2002 vom Thwaites-Gletscher abgebrochen war. Dieser Koloss namens B-22A war ursprünglich 85 Kilometer lang und 64 Kilometer breit und blieb rund 100 Kilometer vor dem Gletscher am Untergrund hängen.

Die Lage des Eisbergs vor einem Jahr. Mittlerweile driftet er ins offene Meer hinaus.
Foto: AP

Dadurch konnte sich zwischen dem Eisberg und dem Gletscher immer wieder zusätzliches Eis bilden, das für eine weitere Stabilisierung des Schelfeises sorgte. Durch die warmen Meeresströmungen von unten ist aber auch dieses Schelfeis vor der rund 100 Kilometer breiten Zunge des eigentlichen Thwaites-Gletschers vom Schwund betroffen. Wie eine beunruhigende Studie vor wenigen Monaten anhand von Rippen am unterseeischen Rücken vor dem Schelfeis zeigte, könnte dieser Zurückweichen des Eises schneller gehen als gedacht.

Destabilisierung der Gletscherfront

Dieser Schwund könnte sich nun noch einmal beschleunigen. Denn in den letzten Monaten hat sich auch B-22A verabschiedet, der seit 20 Jahren als riesiger eisiger Bremsklotz diente. Da zeigt eine Serie von Satellitenbilder, die vom französischen Klimaforscher Simon Gascoin Anfang Jänner veröffentlicht wurden und über die unter anderem das Magazin "New Scientist" berichtete.

Dass sich der Eisberg verabschiedete, könnte nun zu Dominoeffekten führen, wie auch Gascoin befürchtet: Ohne B-22A wird vermutlich das Meereis instabiler, das Stürmen und dem Meer stärker ausgesetzt ist. Dadurch könnte die Front des Schelfeises brüchiger werden, dessen Zerfall wiederum das Eindringen des Meerwassers unter den Thwaites-Gletscher und damit dessen Abschmelzen beschleunigt. Und da dieser selbst ein Bremsklotz für den Westantarktischen Eisschild ist, könnte dieser früher als befürchtet in Bewegung geraten.

Was davon wann passieren wird, ist schwer vorherzusagen. Für den Thwaites-Gletscher könnte es aber womöglich schon im 21. Jahrhundert bedrohlich werden. (Klaus Taschwer, 17.1.2023)