Kollektivvertragsverhandlungen, in diesem Fall im Handel im November 2022: Was in Österreich gang und gäbe ist, soll auch international wiederauferstehen.

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Das Weltwirtschaftsforum (WEF) im schweizerischen Davos, bei dem sich Unternehmenslenker aus aller Welt treffen, gilt für gewöhnlich nicht als Ort, an dem gewerkschaftliche Errungenschaften besonders hochgehalten werden. Umso erstaunlicher ist die einhellige Ansicht eines hochkarätig besetzten Podiums aus Expertinnen und Politikern. Es brauche die Rückkehr einer Institution, die sich zwar in Österreich gut gehalten hat, in vielen anderen Ländern jedoch massiv an Bedeutung verloren hat: dem Kollektivvertrag.

In Österreich unterliegen fast alle Arbeitsverhältnisse – konkret 98 Prozent – dem Regime eines Kollektivvertrags. Die Höhe des Lohns und andere Arbeitsbedingungen werden also zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden auf organisierte Weise und in regelmäßigen zeitlichen Abständen ausverhandelt.

Anders beispielsweise beim deutschen Nachbarn: Dort ist der Anteil jener Arbeitsverhältnisse, die dem dort so bezeichneten Tarifvertrag unterliegen, in den vergangenen Jahrzehnten von rund 85 Prozent auf sechzig Prozent abgestürzt.

Mindestlohn als zweitbeste Lösung

Vertreten auf dem Podium ist Hubertus Heil, Deutschlands Arbeits- und Sozialminister (SPD). Heil hat im vergangenen Sommer eine Maßnahme gesetzt, die bei Unternehmensverbänden Protest hervorrief, weil sie angeblich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gefährdet: die Erhöhung des deutschen Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde, von zuvor 9,82 Euro; das entspricht sechzig Prozent des deutschen Durchschnittsgehalts.

Diese Festsetzung eines Mindestlohns sei aber nur die zweitbeste Lösung, sagt Heil in Davos. "Das sollte keine Frage des Staates sein." Was es eigentlich bräuchte, ist die Rückkehr der Tarifverträge. "Das müssen wir stärken", insbesondere in Zeiten, in denen die Arbeitsmärkte angesichts von Dekarbonisierung, Digitalisierung und der Alterung der Gesellschaft vor einer Umwälzung stehen oder sich bereits in ihr befinden.

Arbeitskräftemangel, Arbeitskräfteüberfluss

Die Lage ist paradox: Einerseits klagen Unternehmen in vielen Bereichen über Fachkräftemangel, andererseits beobachte man in vielen entwickelten Staaten einen "Mangel an Jobs" mit entsprechenden Auswirkungen auf Löhne, erklärt Stefanie Stantcheva, Ökonomieprofessorin an der US-Uni Harvard. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich unter anderem aus der ungleichen regionalen Verteilung der Jobs: In einigen urbanen Zentren gibt es sie im Überfluss samt anständiger Bezahlung; in ländlicheren und strukturschwächeren Gebieten hingegen zu wenige.

Eine Folge davon: Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – in armen Staaten ohnehin, aber auch im reichen Westen – können von ihren Jobs nicht leben, wiewohl sie Vollzeit arbeiten. "Die Marktlöhne reichen nicht", sagt Stantcheva. Das liegt unter anderem daran, das viele Menschen immer mehr Geld für das Wohnen ausgeben müssen. "In den meisten entwickelten Staaten beobachten wir einen Mangel an leistbarem Wohnraum", sagt Nela Richardson, Chefökonomin des US-IT-Konzerns Automatic Data Processing (ADP).

Mindestlohn brächte Billionen an Wirtschaftsleistung

Ein global implementierter Mindestlohn würde, je nach Höhe, bis zu 4,3 Billionen Euro mehr an Wirtschaftsleistung nach sich ziehen, haben Ökonomen errechnet – denn besser verdienende Menschen konsumieren mehr und arbeiten produktiver. Noch mehr Potenzial jedoch traut man dem Revival von Kollektivvertragsverhandlungen zu. Wichtiges Detail dabei: Diese müssten "sektoral" erfolgen, sagt Christy Hoffman von der globalen Gewerkschaftsföderation UNI, also sich auf komplette Branchen beziehen statt auf einzelne Unternehmen.

In Deutschland plant Heil, heuer ein "Paket zur Stärkung der Tarifbindung" vorzulegen, wie es heißt. Kern der Gesetzesänderung: Öffentliche Aufträge sollen künftig nur noch an Unternehmen vergeben werden, die nach Tarifvertrag bezahlen.

US-Initiative "M-Power"

Selbst in den USA, in denen Gewerkschaften seit jeher vergleichsweise wenig Macht haben, hat der demokratische Arbeitsminister Marty Walsh im Dezember 2021 die Initiative "M-Power" ins Leben gerufen. "Damit Demokratien weltweit gedeihen, braucht es die Freiheit, Kollektivvertragsverhandlungen zu führen", erklärte der Minister damals. 120 Millionen US-Dollar staatliches Geld sollen in die Unterstützung unabhängiger Gewerkschaften oder etwa den Ausbau von Beratungen in Sachen Arbeitsrecht fließen, in den USA wie weltweit.

Es bleiben freilich Probleme: Bei Kollektivvertragsverhandlungen sind gut organisierte Arbeitnehmerschaften traditionell im Vorteil, von großen Industriebelegschaften bis hin etwa zu Eisenbahnpersonal. Hingegen tun sich die zerspragelten Dienstleistungsbranchen – von Tourismus und Gastronomie bis zu Pflegeberufen – viel schwerer, Forderungen durchzusetzen. Das zeigt auch die Erfahrung in Österreich regelmäßig. Gerade in den Dienstleistungsbranchen gibt es aber besonders viele Working Poor, und es herrschen durchwegs schlechtere Bedingungen.

Lieferkettengesetz als Lohntreiber

Deshalb schweben dem Podium in Davos neben der Ausweitung der Kollektivverträge auch andere Maßnahmen vor, die zu besserer Entlohnung bei schlecht bezahlten Jobs führen sollen. Eine davon bezieht sich vor allem auf die internationale Ebene: Transparenzmaßnahmen, wie sie etwa die EU in Form ihres Lieferkettengesetzes plant, sollen Ausbeutung und Minderbezahlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entlang der Wertschöpfungsketten großer Unternehmen in armen Ländern verhindern.

Ein weiterer Punkt: Es geht darum, Menschen effizienter für andere, besser bezahlte Jobs umzuschulen – eine Maßnahme, die zugleich für höhere Löhne und gegen den Fachkräftemangel wirken könnte. In Deutschland ist deshalb eine Bildungszeit im Gespräch, in der die Sozialversicherung während der Zeit einer Weiterbildung den Lohn eines Arbeitnehmers übernimmt.

Nicht zuletzt ist das Bewusstsein der Konsumentinnen und Konsumenten gefordert, ebenso wie jenes in den Chefetagen von Unternehmen. Zehn Cent mehr, die ein Käufer im Westen für ein T-Shirt bezahlt, ermöglichen einer Fabrikarbeiterin in Bangladesch bereits ein deutlich besseres Leben, sagt Denis Machuel, Vorstandschef des schweizerischen Personaldienstleisters Adecco. Das müsse den Konsumenten bewusst sein, aber auch Unternehmen. "Sie müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Assets betrachten, nicht als Kostenfaktoren." (Joseph Gepp, 20.1.2023)